Sitzblockaden als Strafschärfung etc. ???

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 20.08.2024
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|1265 Aufrufe

Das BayObLG hat einmal klargestellt, dass man (wohl bei der letzten Generation) nicht einfach Strafen schärfen, kurze Freiheitsstrafen verhängen und Bewährungsaussetzungen versagen kann nur mit der Begründung, die angeklagte Person habe auch an anderen Sitzblockaden teilgenommen. Das wäre ja auch erstaunlich....für mich als Jugendlicher aus den 80ern sind Sitzblockaden ja eher wünschenswerte grundrechtskonforme Demofolklore gegen zum Beispiel gegen amerikanische Waffen auf deutschem Boden. Heute ist man da wohl etwas empfindlicher. Immerhin das BayObLG hat da wohl liberalere Ansichten als etwa das LG Kempten, wenn es richtigerweise davon auseht, dass Sitzblockaden an sich nicht immer automatisch Strafbarkeiten begründen:

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 2. Februar 2024 im Rechtsfolgenausspruch mit den dazugehörigen Feststellungen aufgehoben.

 II. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

 III. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere allgemeine Strafkammer des Landgerichts Kempten (Allgäu) zurückverwiesen.

 Gründe: 

 I.

 Das Amtsgericht – Jugendrichter – Kempten (Allgäu) hat den Angeklagten mit Urteil vom 7. August 2023 wegen Nötigung in 20 tateinheitlichen Fällen zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 20 Euro verurteilt.

 Auf die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht – Jugendkammer – Kempten (Allgäu) mit Urteil vom 2. Februar 2024 den Rechtsfolgenausspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt wurde. Die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht verworfen.

 Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten, welche mit der Rüge der Verletzung formellen Rechts sowie mit der Sachrüge, zu welcher Einzelausführungen angebracht werden, begründet wird. Die Verfahrensrüge wird dahin ausgeführt, dass das im Berufungsverfahren durchgeführte Selbstleseverfahren in verfahrensfehlerhafter Weise ohne ausreichende Bezeichnung der betroffenen Dokumente angeordnet worden sei; ferner seien die betreffenden Ermittlungsberichte aus anderen, nicht rechtskräftigen Verfahren nicht ordnungsgemäß eingeführt worden. Ferner habe sich der Angeklagte entgegen den Urteilsgründen zur Sache nicht eingelassen. Mit der Sachrüge wird die Auffassung vertreten, dass das dem Angeklagten zur Last gelegte Verhalten – Blockieren einer Straße zusammen mit anderen Aktivisten, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen – nicht strafbar sei. Zudem weise die Strafbemessung Rechtsfehler auf.

 Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt mit Stellungnahme vom 11. Juni 2024, der Verteidigung zugestellt am 17. Juni 2024, das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen. Der am 9. Juli 2024 eingegangene Schriftsatz des Revisionsführers lag dem Senat bei seiner Entscheidung vor.

 II.

 Die Revision erzielt mit der erhobenen Sachrüge einen Teilerfolg bezüglich des Rechtsfolgenausspruchs. Dieser unterliegt der Aufhebung, denn die Strafzumessungserwägungen des Landgerichts weisen durchgreifende Rechtsfehler auf. Die weitergehende Revision ist hingegen unbegründet.

 1. Die Verfahrensrüge, die sich gegen das Selbstleseverfahren richtet, versagt aus den von der Generalstaatsanwaltschaft M. in ihrer Antragsschrift vom 11. Juni 2024 angeführten Gründen, auf die der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt (Antragsschrift S. 3 bis 4). Soweit die Revision im Kontext ihrer Einzelausführungen zur Sachrüge zudem moniert, entgegen der Urteilsgründe habe sich der Angeklagte tatsächlich nicht zur Sache eingelassen (RevBegr. S. 8), handelt es sich, wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend darlegt, ebenfalls um die Behauptung eines Fehlers im Verfahren (§ 261 StPO). Aus den von der Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausgeführten Gründen (Zuschreiben S. 4 bis 5), die sich der Senat zu eigen macht, verfängt die Rüge jedoch nicht.

 2. Die Revision ist offensichtlich unbegründet, soweit sie sich gegen den Schuldspruch richtet. Insoweit hat die Nachprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).

 Zur Begründung wird auf die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft, die die maßgeblichen Tatsachen- und Rechtsfragen zutreffend und erschöpfend abhandelt und keiner Ergänzung bedarf, ebenso wie auf die insoweit beanstandungsfreien Urteilsgründe, Bezug genommen.

 3. Der Rechtsfolgenausspruch der angegriffenen Entscheidung kann hingegen keinen Bestand haben. Die Urteilsgründe weisen insoweit auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs, wie ihn die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend dargelegt hat (Zuleitungsschreiben S. 11), durchgreifende Rechtsmängel auf, die auf die Sachrüge hin zu berücksichtigen sind.

 Nach Benennung mehrerer zugunsten des Angeklagten berücksichtigter Umstände (UA S. 26) stellt das Landgericht zur Bemessung der verhängten Freiheitsstrafe (UA S. 26), zur Begründung der Unerlässlichkeit einer kurzen Freiheitsstrafe gemäß § 47 Abs. 1 StGB (UA S. 27) wie auch zur Begründung der versagten Strafaussetzung zur Bewährung (UA S. 27 f.) maßgeblich darauf ab, der Angeklagte habe „bereits vor und nach der Tatbegehung an jedenfalls acht vergleichbaren, strafbaren Sitzblockaden teilgenommen“ (UA S. 26).

 4. Diese strafschärfenden Erwägungen begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, denn sie sind weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht ausreichend belegt.

 a) Es ist grundsätzlich zulässig, bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, dass der Angeklagte noch sonstige – bisher nicht abgeurteilte – Straftaten begangen hat (BGH, Beschluss vom 7. August 2014, 3 StR 438/13, NJW 2014, 3259 m.w.N.). Dies gilt allerdings nur, wenn diese Taten prozessordnungsgemäß und so bestimmt festgestellt sind, dass sie in ihrem wesentlichen Unrechtsgehalt abzuschätzen sind und eine unzulässige Berücksichtigung des bloßen Verdachts weiterer Straftaten ausgeschlossen werden kann (BGH a.a.O.; BayObLG, Beschluss vom 12. Februar 2024, 207 StRR 7/24 [n.v.]).

 b) Das Berufungsgericht hat in den Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten insgesamt acht Vorgänge geschildert, in denen der Angeklagte an Sitzblockaden an verschiedenen Orten beteiligt gewesen sei; hiervon in einem Fall vor der gegenständlichen Tat vom 20. Februar 2023, nämlich am 7. Juni 2022 in R. (UA Bl. 15 f.), alle anderen danach. Ferner ergibt sich aus dem in den Urteilsgründen wiedergegebenen Auszug aus dem Bundeszentralregister eine Tat am 4. August 2022 (vom Berufungsgericht bei den „acht weiteren Taten“ offenbar nicht mitgezählt).

 aa) Tatsächliche Umstände, die sich bei der Strafbemessung zu Lasten des Täters auswirken, dürfen ebenso wie diejenigen, die den Schuldspruch tragen, nur auf der Basis sicherer Feststellungen berücksichtigt werden (BGH a.a.O.; BGH, Beschluss vom 20. August 2003, 2 StR 285/03, NStZ-RR 2004, 41).

 bb) In tatsächlicher Hinsicht stützt das Landgericht die zur Beteiligung des Angeklagten an weiteren Blockadeaktionen getroffenen Feststellungen auf verlesene bzw. im Wege des Selbstleseverfahrens eingeführte polizeiliche Ermittlungsberichte. Mit Ausnahme des Falles Nr. 8 („Strafanzeige Polizei B. vom 23.5.2023“, dort nur Nennung eines Zunamens – „der Tatverdächtige X.“, UA S. 17) ist in allen Fällen eine Person als Beteiligter der Aktion bezeichnet, deren Personalien mit denjenigen des Angeklagten übereinstimmen. Gegen die Einführung der Berichte zu Beweiszwecken bestehen keine auf die Sachrüge zu beachtenden Bedenken.

 Das Revisionsgericht kann gleichwohl allein auf dieser Grundlage die vom Landgericht getroffene Beweiswürdigung nicht nachvollziehen, denn es ist das diesbezügliche Einlassungsverhalten des Angeklagten nicht ersichtlich. Für eine vollständige Beweiswürdigung – derer es auch für strafzumessungsrelevante Tatsachen bedarf – ist es regelmäßig erforderlich, zunächst mitzuteilen, ob bzw. wie sich der Angeklagte eingelassen hat (BGH, Beschluss vom 1. September 2020, 1 StR 205/20, BeckRS 2020, 27249 Rn. 3; Beschluss vom 24. Juni 2020, 2 StR 416/19, BeckRS 2020, 18734). Daran fehlt es vorliegend. Soweit in den Urteilsgründen ausgeführt ist, die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen beruhten „auf den insoweit glaubhaften Angaben [des] Angeklagten“ (UA S. 20), sind hiervon die weiteren Blockadeaktionen ersichtlich nicht umfasst; diese werden in den Urteilsgründe gesondert abgehandelt (UA S. 22 f.). Auch ein Fall, in dem ausnahmsweise auf die Mitteilung des Einlassungsverhaltens verzichtet werden könnte, weil sich aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergeben würde, dass sich der Angeklagte weder zur Person noch zur Sache eingelassen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2020, 2 StR 416/19, BeckRS 2020, 18734), liegt nicht vor. Der Angeklagte hat sich ausweislich der Urteilsgründe sowohl zur Person (UA S. 20) als auch zur Sache eingelassen (UA S. 21). Ohne Kenntnis der Einlassung des Angeklagten zu den weiteren Tatvorwürfen kann der Senat aber nicht beurteilen, ob die polizeiliche Ermittlungsberichte als alleinige Beweisgrundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts ausreichend sein können.

 cc) Auch in rechtlicher Hinsicht wird die strafschärfende Wertung, der Angeklagte habe an weiteren „strafbaren Sitzblockaden“ teilgenommen (UA S. 26) von den zitierten Dokumenten nicht getragen. Diese enthalten lediglich wertungsfreie Sachverhaltsschilderungen. Die rechtliche Bewertung dieser Tatsachen im jeweiligen Einzelfall daraufhin, ob sie sowohl in objektiver wie subjektiver Hinsicht Straftatbestände verwirklichen, wobei jeweils Nötigung im Sinne des § 240 StGB in Betracht kommt, wäre Sache des Tatgerichts gewesen. Angesichts der komplexen Voraussetzungen des § 240 StGB in derartigen „Blockadefällen“, die stets einer Einzelfallwürdigung bedürfen, liegt die Begehung von Straftaten aufgrund der mitgeteilten Sachverhalte jedenfalls nicht auf der Hand. Die Revision weist insoweit zutreffend darauf hin, dass hinsichtlich der rechtlichen Einordnung der jeweiligen Handlungen der bloße Verweis auf die zum gegenständlichen Fall getroffenen Ausführungen (UA S. 23) nicht genügt.

 Eine Subsumtion der einzelnen Sachverhalte unter § 240 StGB kann nicht durch den Senat nachgeholt werden, denn die festgestellten Sachverhalte bieten hierfür keine ausreichende Grundlage. Lediglich exemplarisch sei Folgendes aufgezeigt: Zu Fall 1. (UA S. 4 bis 6) ist nicht erkennbar, wie lange sich die namentlich benannten Geschädigten im Stau befanden, und ob sie ggf. „in erster Reihe“ standen oder durch andere Fahrzeuge in erster Reihe an der Weiterfahrt gehindert wurden. Zu Fall 2: Es ist nicht erkennbar, wann der dortige Beschuldigte X. die Fahrbahn wieder verlassen hat (s. UA S. 7). Zu Fall 3 (UA S. 9 f.) und Fall 4 (UA S. 10 f.): Geschädigte sind nicht festgestellt. Zu Fall 5 (UA S. 11 f.) und Fall 6 (UA S. 15 f.): Konkrete Geschädigte und die Zeitdauer etwaiger Behinderungen sind nicht festgestellt.

 Die Darstellung genügt damit nicht den Anforderungen an eine prozessordnungsgemäße Feststellung berücksichtigungsfähiger weiterer, nicht angeklagter und nicht anderweitig abgeurteilter Straftaten.

 c) Die Verhängung einer Freiheitsstrafe und deren Bemessung beruhen auch auf diesen Darstellungsmängeln, § 337 StPO. Das Landgericht verweist ausdrücklich auf die strafschärfende Berücksichtigung dieser weiteren, explizit als „strafbar“ bezeichneten „Sitzblockaden“ (UA S. 26). Die von ihm verhängte Strafe wäre – jedenfalls nicht ausschließbar – milder ausgefallen, wenn das Gericht die Sachverhalte nicht berücksichtigt oder sie weiter aufgeklärt und dabei nicht ausschließbar zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass sich der Angeklagte insoweit nicht bzw. nicht in jedem Fall strafbar gemacht hat.

 d) Der Senat weist – auch für das weitere Verfahren – ergänzend auf Folgendes hin:

 Auch solche Umstände, die keine Straftaten verwirklichen, sondern zur allgemeinen Lebensführung des Täters gehören, können im Einzelfall strafschärfend berücksichtigt werden. Dies gilt jedoch nur dann, wenn sie eine Beziehung zu der abgeurteilten Tat haben und sich daraus eine höhere Tatschuld ergibt (BGH, Beschluss vom 13. August 2013, 4 StR 288/13, juris Rn. 8). Was das Mitwirken an Protestaktionen betrifft, wird insoweit zu bedenken sein, dass eine bloße Teilnahme an Formen des Protests gegen staatliches Handeln oder Nicht-Handeln, soweit sie keine Straftat oder Ordnungswidrigkeit verwirklicht, von den Grundrechten der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 GG und der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 GG gedeckt sein kann. Formen erlaubten und friedlichen Protests dürfen daher, selbst wenn sie für Teile der Bevölkerung im Einzelfall lästig sein mögen, regelmäßig nicht schon für sich straferhöhend berücksichtigt werden.

 III.

 Auf die Revision des Angeklagten wird daher das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen (§§ 349 Abs. 4, 353 Abs. 1 und Abs. 2 StPO) aufgehoben.

 Die weitergehende Revision war als unbegründet zu verwerfen (§ 349 Abs. 2 StPO).

 Im Umfang der Aufhebung ist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts Kempten (Allgäu) zurückzuverweisen, § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO, nachdem am Verfahren kein Heranwachsender mehr beteiligt ist.

BayObLG Beschl. v. 10.7.2024 – 206 StRR 237/24, BeckRS 2024, 16729

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