Sperrung von Tweets und Facebook-Beiträgen – Die fatale Langzeitwirkung des NetzDG deutet sich bereits an

von Prof. Dr. Marc Liesching, veröffentlicht am 02.01.2018
Rechtsgebiete: Medienrecht|15145 Aufrufe

Die Sperrung einzelner Tweets und Facebook-Beiträge von AfD-Politikerinnen sind nur marginale Symptome. Wesentlich problematischer sind die aufgrund des NetzDG künftig hundert- und tausendfach im Stillen von Netzwerkbetreibern gelöschten Meinungsäußerungen, welche keine derart große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren werden wie die kalkulierten PR-Aktionen der AfD.

Das NetzDG ist ein Angriff auf die freiheitlich demokratische Grundordnung „mit Ansage“. Nahezu einhellig haben Fachjuristen das Gesetz schon vor seinem Inkrafttreten als verfassungswidrig und/oder europarechtswidrig angesehen (vgl. z.B. Feldmann, K&R 2017, 292, 293; Gersdorf, MMR 2017, 439 ff.; Hain/Ferreau/Brings-Wiesen, K&R 2017, 433, 434; Heidrich/Scheuch, DSRITB 2017, 305, 314; Koreng, GRUR-Prax 2017, 203, 205; Ladeur/Gostomzyk, K&R 2017, 390 f.; Liesching in: Spindler/Schmitz, TMG-Kommentar, 2. Aufl. 2018, § 1 NetzDG Rn. 22 ff.; ders., MMR 2018, 26; Nolte, ZUM 2017, 552, 561; Wimmers/Heymann, AfP 2017, 93, 97). Ebenso der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages.

Auch der Präsident des BVerfG a. D. Prof. Dr. Dres. h. c. Hans-Jürgen Papier verlieh in einem NJW-Fachaufsatz der Befürchtung Ausdruck, „dass Anbieter – auch unter Berücksichtigung der Kürze der Zeit – geneigt sein könnten, bei Beschwerden vorsichtshalber die Entfernung vorzunehmen, selbst wenn objektiv die Annahme der Rechtswidrigkeit zweifelhaft ist, die Meinungsfreiheit also auch dann zurücktreten lassen, wenn objektiv die Grenzen dieses Grundrechts (Art. 5 Abs. 2 GG) gar nicht überschritten sind“ (Papier, NJW 2017, 3025, 3030). Nach Einschätzung Papiers „wäre es nicht verwunderlich, wenn sich die privaten Anbieter vorsorglich und im Zweifel für eine Löschung entscheiden. Damit stellt sich schon die Frage, ob der Gesetzgeber des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes die objektive verfassungsrechtliche Wertentscheidung zugunsten der Meinungsfreiheit im Art. 5 Abs. 1 GG hinreichend berücksichtigt hat“ (Papier, NJW 2017, 3025, 3030).

Die von AfD-Politikerinnen nunmehr medienwirksam produzierten „Zensurfälle“ zeigen die von dem ehemaligen BVerfG-Präsidenten skizzierte Problematik auf. Ob die in Frageform gekleidete Äußerung einer AfD-Politikerin über „barbarische, muslimische, gruppenvergewaltigende Männerhorden“ schon den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt und damit unter das NetzDG fällt, ist fraglich. Der Äußerungsinhalt ist m.E. intolerant, gedankenlos pauschalisierend und dumm. Dies sind aber keine Merkmale des § 130 StGB. Die NetzDG-Zensurstruktur der kurzfristigen Zweifelsfall-Löschung führte jedenfalls in einem Fall zur Zugangssperrung, ehe auch nur ein gerichtliches Verfahren hierüber anhängig geworden ist oder auch nur ein Staatsanwalt die Äußerung strafrechtlich geprüft hat. In dubio contra libertate heißt der neue Grundsatz. Als Nebeneffekt wird die Zensuropfer-Stilisierung durch rechtsextreme politische Akteure erleichtert und befördert. Ein offensives und mündiges Entgegentreten der Gesellschaft gegen solche Hassreden und damit eine wehrhafte Debattenkultur wird erschwert.

Die verfassungs- und europarechtlichen Bedenken hat der Bundesjustizminister bis heute durchweg in den Wind geschlagen. Eine parlamentarische Opposition gegen das NetzDG war zudem fast nicht existent; vielmehr wurde das eilig mit mannigfachen Rechtsfehlern gestrickte Gesetz im Windschatten der gesetzgeberischen Etablierung der gleichgeschlechtlichen Ehe im Bundestag durchgewunken. Sehr fraglich ist, ob die Betreiber sozialer Netzwerke gegen das NetzDG beim BVerfG Verfassungsbeschwerde einlegen werden. Unternehmen orientieren sich zuvörderst und legitimer Weise an ökonomischen Parametern. Und die flächendeckende Löschung im Zweifelsfall spart personalintensive juristische Einzelfallprüfungen ein.

Am Tag 2 der praktischen Umsetzung des NetzDG ist noch nicht abzusehen, welche Langzeitwirkungen die nunmehr etablierte Löschinfrastruktur zeitigen wird. Die heutigen – noch medienwirksam – diskutierten Fälle lassen mich persönlich zu der Einschätzung gelangen: Das mit dem NetzDG eingeführte faktisch-vorzensorische System wird die Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken schleichend und weitgehend unbemerkt abschaffen.

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion