Untersuchungshaft-Anordnung im europäischen Vergleich – eine schwierige Sache

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 21.06.2019
Rechtsgebiete: StrafrechtKriminologieStrafverfahrensrecht58|7818 Aufrufe

Der österreichische Jura-Blogger Oliver Scheiber  verlinkte heute auf Twitter einen Artikel von Walter Hammerschick vom Wiener IRKS im Journal für Strafrecht (2019, S. 221 ff.), der sich mit der Empirie zur Anordnung der Untersuchungshaft in mehreren europäischen Ländern befasst.

Gegenstand der Twitter-Diskussion über diesen Artikel war die Aussage, wonach die Genehmigungs- bzw. Anordnungsrate der U-Haft nach entsprechendem Antrag der Staatsanwälte in Österreich 85 bis 90 % betrage, in Irland hingegen nur rund 44 %. Die Angaben beruhten auf Schätzungen von Experten, die für die europäische Studie „Untersuchungshaft als Ultima Ratio“ befragt wurden.

Da die Zahl der Untersuchungshäftlinge in Deutschland berechnet auf 100.000 Einwohner mit 14 weit geringer ist als in Österreich (24), aber in etwa so hoch wie in Irland (13), könnte man auf den Gedanken kommen, deutsche und irische Richter seien bei Haftbefehlen genauer und kritischer als österreichische.

Indes, es ist wohl anders. Zunächst muss man einmal darauf hinweisen, dass statistische Daten für diese Frage hins. Deutschland kaum zu ermitteln sind, noch weniger ist dies im europäischen Vergleich möglich. Nach Angaben von Christine Morgenstern in ihrer 2018 erschienenen, sehr empfehlenswerten, Habilitationsschrift „Die Untersuchungshaft“ werden in Deutschland (wiederum geschätzt) unter 10 % der Haftbefehlsanträge von Gerichten abgelehnt (dort S. 499), also noch weniger als (geschätzt) in Österreich. Allerdings ist das gar nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass Gerichte in Österreich wie in Deutschland einfach größtenteils „abnicken“, was die Staatsanwälte ihnen vorlegen, während die irischen Richter kritischer sind.

Vielmehr könnten ganz verschiedene Gründe eine Rolle spielen:

Erstens könnte sich in dieser Zahl widerspiegeln, inwiefern die Staatsanwaltschaften sich schon selbst (quasi die gerichtliche Entscheidung antizipierend) in ihrer Antragstellung mehr oder weniger zurückhalten.

Zweitens kommt es darauf an, welche Haftgründe das jeweilige Gesetz überhaupt vorsieht bzw. welche praktisch werden: So ist aus dem Artikel von Hammerschick zu erfahren, dass in Österreich der Haftgrund „Wiederholungsgefahr“ praktisch weit im Vordergrund steht (90 %!), während dieser in Deutschland nach § 112a StPO nur subsidiär und bei Verdacht der Begehung schwerwiegenderer Straftaten in Betracht kommt. In Irland ist zwar auch Wiederholungsgefahr als Haftgrund vorgesehen, jedoch wird der Präventionsgedanke angesichts der Unschuldsvermutung traditionell von Staatsanwälten und Gerichten nur selten in Ansatz gebracht.

Drittens könnte den Hauptunterschied zwischen Kontinent und Irland das dortige „Bail“-System bilden, welches im Grundsatz für jeden Tatverdächtigen einen Anspruch beinhaltet, unter gewissen Bedingungen bis zum Prozess freizukommen. Bail kann nur aus bestimmten Gründen verneint werden, d.h. das Regel-/Ausnahmeprinzip ist hier umgekehrt wie in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, und es setzt zunächst den Antrag voraus, auch wenn das Gericht voraussehbar Bail befürwortet. Das könnte den erstaunlichen Unterschied zwischen Deutschland und Irland in der Genehmigungsquote erklären. Die meisten Angeklagten werden aufgrund gerichtlichem Bail-Beschluss (meist mit Auflagen) bis zum Gerichtstermin auf freien Fuß gesetzt, während in Deutschland nur bei einem geringen Teil eine Haftverschonung (ggf. gegen Sicherheitsleistung) erfolgt. Wobei ich nicht nachvollziehbaren kann, ob die deutsche Haftverschonung in den o.a. Schätzungen der gerichtlichen Anordnungsquote überhaupt berücksichtigt wird. Hinzu kommt, dass in Deutschland und Österreich die U-Haft auch bei Einlegung von Rechtsmitteln weiter besteht, während dies in Irland nicht der Fall ist.

In den zu dieser Frage recherchierten Büchern, Artikeln und Statistiken sind mir noch viel mehr berichtenswerte Unterschiede zur Praxis der U-Haft aufgefallen und auch Ideen dazu, wie die U-Haft tatsächlich in Europa zur "ultima ratio" werden könnte.

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58 Kommentare

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Diese Unterschiede bei den "Statistiken" sind durchaus bekannt, auch ist es selbstverständlich wichtig, auf sie hinzuweisen.

Der Personenkreis der Richter und Staatsanwälte ist jedoch beschränkt und bei ihm ist mir zu Haftgründen - außerhalb der normierten - selbst eine grobe Schätzung mit irgendeinem Hintergrund zur Erhebung und Ermittlung bisher nicht bekannt.

Übrigens haben wir uns doch alle nach Wahlen an viele Zahlen zu Wählerbewegungen gewöhnt, das sind aber auch keine Statistiken, die auf einer statistischen Auswertung von echten Stimmzetteln beruhen.

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Genau das war doch der Inhalt meines Kommentars, es gibt Statistiken und "Statistiken" mit fliessenden Übergängen und Aussagekräften.

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Zur Verbesserung der Übersichtlichkeit in der Diskussion bräuchte man sich hier im Beck-Blog nur zu entschliessen, dass ein Kommentator immer angemeldet (eingeloggt) sein muss, wobei er nur ein einziges Pseudonym, oder den Klarnamen, verwenden darf. Dann wären seine Kommentare auch aufgelistet nachlesbar.

Denn ansonsten kann ja jeder Kommentator hanebüchenen Unsinn unter irgendeinem Namen schreiben und später will er nichts mehr damit zu tun haben.
 

Freiwilligkeit oder Appelle jedoch reichen erfahrungsgemäss da nicht, da muss Verbindlichkeit her und kein zweierlei Mass.

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Sie können ja ohne Weiteres unter Ihrem angemeldeten Namen schreiben, Herr Günter Rudolphi (oder GR). Niemand hindert Sie.  Es muß doch einen Grund haben, dass Sie plötzlich als unangemeldeter Gast auftreten. Schieben Sie es also nicht auf andere, sondern fassen Sie sich am eigenen Portepee...

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Übrigens, Herr Professor Müller, auch Sie als Jurist müssten doch hier ebenfalls für Fairness und Gleichbehandlung - ohne jede Willkür oder Sonderbehandlungen - sein.

Genau darum geht es mir aber auch noch.

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