LG Stuttgart: Zur Anfechtbarkeit des Gewinnverwendungsbeschlusses bei Vollthesaurierung des Bilanzgewinns

von Dr. Cornelius Wilk, veröffentlicht am 27.09.2020

Das LG Stuttgart hat mit Urteil vom 28. Juli 2020 (31 O 4/20 KfH; BeckRS 2020, 21592) zu den Voraussetzungen Stellung genommen, unter denen die Hauptversammlung beschließen kann, trotz Bilanzgewinns vollständig auf eine Gewinnausschüttung zu verzichten, ohne eine Anfechtbarkeit nach § 254 Abs. 1 AktG zu begründen.

Voraussetzungen für Dividendenausfall nach § 254 Abs. 1 AktG

Nach der Vorschrift ist ein Gewinnverwendungsbeschluss anfechtbar, wenn (i) Bilanzgewinn vorhanden ist, (ii) keine Dividende von mindestens 4 % des Grundkapitals beschlossen wird und (iii) die Thesaurierung „bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung nicht notwendig ist, um die Lebens- und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft für einen hinsichtlich der wirtschaftlichen und finanziellen Notwendigkeiten übersehbaren Zeitraum zu sichern“.

Sicherung (nur) der Wettbewerbsfähigkeit der Gesellschaft

Die „Lebens- und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft“, so das Gericht, sei nicht auf eine Substanzerhaltung beschränkt. Ein Dividendenverzicht sei auch dann gerechtfertigt, wenn dies zur Erhaltung des gegenüber Wettbewerbern erreichten Standes erforderlich sei. Regelmäßig nicht gerechtfertigt sei der Verzicht dagegen, soweit nicht nur der Erhalt der Marktposition, sondern eine Expansion geplant sei.

Nachträgliche Prognoseänderungen

Maßgeblich sei die Notwendigkeit einer Thesaurierung aus Sicht im Zeitpunkt des Beschlusses. Nachträgliche Entwicklungen könnten wie im Spruchverfahren berücksichtigt werden, soweit sie im Beschlusszeitpunkt schon angelegt, erkennbar und vorhersehbar gewesen seien (sog. Wurzeltheorie). Für den hier im Dezember 2019 gefassten Beschluss seien die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie außer Betracht zu lassen.

Maßgeblicher Betrachtungszeitraum

Der „übersehbare Zeitraum“ werde – so die Kammer in Anlehnung an die Grundsätze für Unternehmensbewertungen im Spruchverfahren und den dort geltenden Zeitraum von drei bis fünf Jahren – durch den individuellen Planungshorizont des Unternehmens begrenzt. Überprüfbar sei die Planung und darauf aufbauende Prognosen nur eingeschränkt. Hierin spiegelten sich die Überlegungen der Business Judgment Rule wider. Die Kammer setzt sich insoweit vom LG Frankfurt am Main ab, das sich in einer Entscheidung vom 15. Dezember 2016 zu § 254 Abs. 1 AktG gegen eine Einschränkung der Nachprüfbarkeit nach Business-Judgment-Grundsätzen aussprach (3-5 O 154/16).

Kein Zusammenhang mit fehlender Absenkung der Vorstandsvergütung

Dass die Gesellschaft parallel zum Dividendenverzicht keine Kürzung der Vorstandsvergütung wegen Verschlechterung der Lage der Gesellschaft nach § 87 Abs. 2 AktG vorgenommen habe, deute nicht auf eine Anfechtbarkeit gemäß § 254 Abs. 1 AktG hin. Die Stoßrichtung der beiden Vorschriften sei unterschiedlich. Auch insofern wendet sich die Kammer gegen die Ansicht des LG Frankfurt am Main in dem oben genannten Urteil.

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