BGH zum Tod nach Überdosis Morphin im Altenpflegeheim – Fall 2

von Dr. Jörn Patzak, veröffentlicht am 06.12.2020

In der Leitsatzentscheidung des BGH vom 30.1.2019, 2 StR 325/17 (BGHSt. 64, 69 = NStZ 2020, 29), ging es ebenfalls um den Tod eines Patienten in einem Altenpflegeheim nach einer Überdosis Morphin.

Zum Sachverhalt in diesem Fall: Der 84-jährige spätere Geschädigte wohnte in einer Seniorenresidenz. Er litt an Darmkrebs im Endstadium. In einer Patientenverfügung hatte er festgelegt, dass im „unabwendbaren unmittelbaren Sterbeprozess“ keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr ergriffen werden sollten. Für diesen Fall hatte er den Wunsch geäußert, dass ihm „bei Schmerzen, Erstickungsängsten und Atemnot, Übelkeit, Angst sowie anderen qualvollen Zuständen und belastenden Symptomen Medikamente verabreicht werden“, die ihn „von Schmerzen und größerer Belastungen befreien, selbst wenn dadurch sein Tod voraussichtlich früher eintreten“ werde. Aufgrund zunehmender Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Geschädigten ging die behandelnde Ärztin von einem unmittelbar bevorstehenden Tod aus. In Absprache mit den Angehörigen setzte sie alle Medikamente ab und ordnete an, dass dem Geschädigten nur noch alle vier Stunden fünf mg Morphin zur Schmerzlinderung und Beruhigung injiziert werden sollten. Die erste Dosis à 5 mg Morphin spritzte die Ärztin dem Patienten selbst, weitere folgten alle vier Stunden durch die diensthabende Pflegerin.

In der folgenden Nacht trat die Angeklagte als Pflegekraft in der Seniorenresidenz ihren Nachtdienst an. Von der abzulösenden Kollegin wurde sie über die Situation und die angeordnete Dosis Morphin unterrichtet. Nachdem sich der Gesundheitszustand des Geschädigten weiter verschlechtert hatte, erhöhte sie eigenmächtig die Dosierung und verabreichte dem Geschädigten, der ihr leid tat, 10 mg Morphin. Der Geschädigte verstarb kurze Zeit später an Herz-Lungen-Versagen.

Urteil des Landgerichts: Das Landgericht konnte nicht feststellen, dass der Tod des Patienten durch die Morphininjektion verursacht wurde. Es verurteilt die Angeklagte wegen Körperverletzung gem. § 223 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr mit Strafaussetzung zu Bewährung, da sie durch die Injektion des Morphins „jedenfalls einen pathologischen Zustand herbeigeführt oder gesteigert“ habe. Die Körperverletzung sei nicht gerechtfertigt, weil die Verabreichung der Spritze mit 10 mg Morphin nicht der ärztlichen Anordnung entsprach und weder eine wirksame, ausdrücklich oder stillschweigend erklärte Einwilligung, noch eine mutmaßliche Einwilligung des Tatopfers vorlag. Ohnehin sei „eine Einwilligung nur in eine fachgerechte ärztliche Heilbehandlung möglich und nicht in einer Maßnahme einer Pflegekraft, die bewusst eine ärztliche Anordnung umgeht bzw. eigenmächtig erweitert.“

Entscheidung des BGH: Der 2. Strafsenat des BGH hob das Urteil auf und wies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück.

Zum einen habe das Landgericht nicht ausreichend begründet, dass die Angeklagte durch die Morphininjektion das Tatbestandsmerkmal einer Gesundheitsbeschädigung i..d. § 223 StGB erfüllt habe.

Zum anderen sei die Verneinung der Rechtfertigung durchgreifend rechtsfehlerhaft, wie sich aus folgenden Entscheidungsgründen ergibt:

„Das LG hat sich den Blick auf die Notwendigkeit einer näheren Prüfung der mutmaßlichen Einwilligung verstellt, indem es aus der Abweichung der Angeklagten von der ärztlichen Verordnung eine generelle Unmöglichkeit der Rechtfertigung der Körperverletzung durch mutmaßliche Einwilligung abgeleitet hat.

(1) Nach den Urteilsfeststellungen ist eine Einwilligung in die konkrete Handlung der Angekl. nicht erklärt worden. Ob von einer mutmaßlichen Einwilligung auszugehen ist, wäre durch Gesamtschau aller Umstände zu prüfen gewesen, die das LG – von seinem Standpunkt aus folgerichtig – unterlassen hat.

Die Grundsätze der Rechtfertigung von Maßnahmen zur Ermöglichung eines schmerzfreien Todes sind aber nicht ausnahmslos auf Handlungen durch einen Arzt oder aufgrund ärztlicher Anordnung beschränkt (Senat Urt. v. 25.6.2011 – 2 StR 454/09, BGHSt 55, 191, 205 f.; Rissing van Saan ZIS 2011, 544, 550). Im Ausnahmefall kann auch ein Nichtarzt medizinische Maßnahmen zur Leidensminderung durchführen, wenn sie der Sache nach den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechen und sich im Rahmen einer mutmaßlichen Einwilligung des Patienten bewegen. Dies gilt auch deshalb, weil das Unterlassen einer vom Patienten erwünschten Schmerzbekämpfung durch einen Garanten eine Körperverletzung sein kann (Senat Urt. v. 30.9.1955 – 2 StR 206/55, BeckRS 1955, 31192233; Grauer Strafrechtliche Grenzen der Palliativmedizin, 2006, S. 81 ff., 126 ff.; Ingelfinger in Anderheiden/ Bardenheuer/Eckart, Ambulante Palliativmedizin als Bedingung einer ars moriendi, 2008, S. 97, 106).

Beim Sterben eines unheilbar Kranken, dem unmittelbar vor dem Tod nur noch durch Schmerzbekämpfung geholfen werden kann, besteht eine besondere Ausnahmesituation (Herzog FS Kargl, 2015, S. 201, 205).

Tritt deshalb der Gesichtspunkt des Handelns aufgrund einer ärztlichen Verordnung in den Hintergrund, schließt die Eigenschaft des Handelnden als Nichtarzt oder sein Handeln unter Abweichung von einer ärztlichen Anordnung die Rechtfertigung einer Körperverletzung durch mutmaßliche Einwilligung nicht zwingend aus, wie es das Landgericht jedoch vorausgesetzt hat.

(2) Die StrK hätte daher eine Gesamtwürdigung aller Umstände vornehmen müssen, die für den mutmaßlichen Patientenwillen von Bedeutung sein können. Dabei wäre zu berücksichtigen gewesen, dass im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten der Inhalt seines Willens aus seinen persönlichen Umständen, individuellen Interessen, Wünschen, Bedürfnissen und Wertvorstellungen zu ermitteln ist (Senat Beschl. v. 25.3.1988 – 2 StR 93/88, BGHSt 35, 246, 149 f.; BGH Urt. v. 13.9.1994 – 1 StR 357/94, BGHSt 40, 257, 263). Dafür liefert eine Patientenverfügung wichtige Hinweise. […]

Zwar gehört die Beachtung ärztlicher Anordnungen im Regelfall zudem, was als gemeinhin vernünftig anzusehen ist. Jedoch kann beim eigentlichen Sterbevorgang unmittelbar vor dem Tod auch die Schmerzbekämpfung mit allen verfügbaren und den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechenden Mitteln als vernünftig und deshalb dem mutmaßlichen Patientenwillen entsprechend anzusehen sein (Grauer aaO, S. 78). Das gilt besonders, wenn – wie hier festgestellt – die ärztlich verordnete Schmerzmedikation allenfalls an der Untergrenze des medizinisch Angemessenen gelegen hat. Zudem ist bei der Gesamtwürdigung in den Blick zu nehmen, wie nahe der Patient dem Tode war (BGH Urt. v. 13.9.1994 – 1 StR 357/94, BGHSt 40, 257, 263). An einer Gesamtwürdigung aller wesentlichen Umstände fehlt es jedoch im angefochtenen Urteil.

Des Weiteren führt der 2. Strafsenat aus, dass eine Einwilligung vorliegend auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Sittenwidrigkeit der Tat ausscheide:

„Insoweit ist im Allgemeinen zu prüfen, ob die Körperverletzung wegen des Gewichts des Rechtsgutsangriffs durch Verursachung der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung als sittenwidrig erscheint (BGH Urt. v. 20.2.2013 – 1 StR 585/12, BGHSt 58, 140, 145 f.; Urt. v. 22.1.2015 – 3 StR 233/14, BGHSt 60, 166, 176 ff.). Bei medizinischen Maßnahmen steht dagegen die Frage der Verfolgung eines anerkennenswerten Zwecks im Vordergrund (Senat Urt. v. 26.5.2004 – 2 StR 505/03, BGHSt 49, 166, 171); auch lebensgefährliche oder sonst besonders folgenreiche medizinische Behandlungen, die der Wiederherstellung der Gesundheit eines Kranken oder der Rettung seines Lebens dienen, sollen seiner Disposition zugänglich sein. Eine Maßnahme, die medizinisch indiziert ist, verstößt deshalb grundsätzlich nicht gegen die guten Sitten.“

Auch führe ein gleichzeitiger Verstoß gegen § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG („unerlaubte“ Verabreichung von Betäubungsmitteln) nicht zwingend zur Sittenwidrigkeit der Körperverletzung. Soweit der 3. Strafsenat dies anlässlich einer Entscheidung zu Körperverletzungen bei verabredeten Schlägereien anders sieht, führt der 2. Strafsenat aus:

„Ein gleichzeitiger Verstoß gegen § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG führt nicht zwingend zur Sittenwidrigkeit der Körperverletzung.

(1) Allerdings hat der 3. Strafsenat des BGH seine dahin gehende Rechtsprechung anlässlich einer Entscheidung über die Sittenwidrigkeit von Körperverletzungen bei verabredeten Schlägereien aufgegeben (BGH Urt. v. 22.1.2015 – 3 StR 233/14, BGHSt 60, 166, 187). Dies hindert den erkennenden Senat im Fall einer Verabreichung von Morphin zur Schmerzbekämpfung bei einem Sterbenden aber nicht an einer Entscheidung im Sinne der bisherigen Rspr. Der 3. Strafsenat hat sich dazu nicht geäußert. Seine Entscheidung erfasst nicht medizinisch indizierte Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit.“

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