Weiteres Vorabentscheidungsersuchen zur Massenentlassung

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 19.02.2024
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht|943 Aufrufe

Das Verfahren ist ungewöhnlich, aber korrekt: Im Juli 2023 hatte der EuGH entschieden, dass Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 der Massenentlassungs-Richtlinie 98/59/EG den Arbeitnehmern keinen Individualschutz gewährt (EuGH, Urt. vom 13.7.2023 - C-134/22, NZA 2023, 887 - M O/S M; dazu hier im BeckBlog). Deshalb beabsichtigt der Sechste Senat des BAG, seine Rechtsprechung, dass eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot iSv. § 134 BGB unwirksam ist, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder lediglich eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt, aufzugeben. Wegen der entgegenstehenden Rechtsprechung des Zweiten Senats (BAG, Urt. vom 22.11.2012 - 2 AZR 371/11, NZA 2013, 845) hat er bei diesem angefragt, ob dieser angesichts der Judikatur des EuGH an seiner Auffassung festzuhalten beabsichtigt (BAG, Beschl. vom 14.12.2023 - 6 AZR 157/22 (B), NZA 2024, 119).

Der Zweite Senat gibt nun aber nicht, wie man hätte erwarten können, eine (positive oder negative) Antwort (wobei eine negative Antwort sodann eine Entscheidung des Großen Senats erforderlich gemacht hätte), sondern legt seinerseits dem EuGH verschiedene Fragen zur Auslegung der Massenentlassungs-Richtlinie 98/59/EG vor:

1. Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist?

Sofern die erste Frage bejaht wird:

2. Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügen?

3. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?

Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden:

4. Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?

Damit liegt der Fall jetzt vermutlich weitere 18 Monate in Luxemburg. Erst danach wird sich der Zweite Senat wieder mit der Divergenzanfrage befassen. Bis zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits vergeht also noch reichlich Zeit. Da die Arbeitgeberin sich ohnehin in der Insolvenz befindet, geht es "nur" um das Annahmeverzugsrisiko der Insolvenzmasse.

BAG, Beschl. vom 1.2.2024 - 2 AS 22/23 (A), Pressemitteilung hier

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