Verschlechterungsverbot und Absehen vom Fahrverbot

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 16.07.2024
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|810 Aufrufe

Irre - offenbar wollte der Betroffene gar nicht, dass vom Regelfahrverbot abgesehen wird. Das AG tat es doch. Und erhöhte die Regelgeldbuße aufs dreifache. Das OLG: Das ist kein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot. Aber wie geht es nun weiter, wenn auch sonst im Urteil einiges falsch ist?

 

1. Die Sache wird auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

 2. Das angefochtene Urteil wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens – an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.

 Gründe: 

 I.

 Das Amtsgericht hat mit dem angefochtenen Urteil gegen den Betroffenen wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 32 km/h eine Geldbuße von 600,00 € festgesetzt. Es hat im Rechtsfolgenausspruch von der Verhängung des Regelfahrverbotes abgesehen und stattdessen die Geldbuße verdreifacht.

 Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, welche er mit der allgemeinen Sachrüge begründet. Es mangele „dem Urteil an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen hinsichtlich der entscheidungserheblichen Fragen“. Weder habe das Amtsgericht seine wirtschaftlichen Verhältnisse ermittelt, noch lägen Härtegründe für ein Absehen vom Fahrverbot vor. Er habe dieses auch nicht beantragt.

 Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

 II.

 Die Fortbildung des Rechts gebietet die Übertragung der Entscheidung auf den Senat (hierzu unter 1.). Das angefochtene Urteil weist durchgreifende Rechtsmängel aufgrund eines Darstellungsmangels im Schuldspruch und aufgrund unzureichender Feststellungen zum Rechtsfolgenausspruch auf (hierzu unter 2.). Auf diesen Rechtsmängeln beruht das Urteil zum Nachteil des Betroffenen auch, weshalb sein Rechtsmittel jedenfalls vorläufigen Erfolg hat (hierzu unter 3.).

 1. Die Sache ist gemäß § 80a Abs. 1, Abs. 3 OWiG auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern zu übertragen, denn es ist geboten, die Frage, ob, wenn das Tatgericht rechtsfehlerhaft von der Verhängung eines Fahrverbotes absieht und statt dessen auf eine erhöhte Geldbuße erkennt, ein Urteil in einem Bußgeldverfahren auf diesem Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen beruht, zur Fortbildung des Rechts zu prüfen.

 Die Generalstaatsanwaltschaft hat dies in ihrer an den Senat gerichteten Zuschrift verneint und hierzu ausgeführt:

 „Diese Rechtsfehler beschweren den Betroffenen jedoch nicht. Es fehlt an einer Benachteiligung des Betroffenen durch die vom Amtsgericht letztlich vorgenommene Festsetzung der Geldbuße, da diese im Vergleich zum Fahrverbot das mildere Ahndungsmittel ist (BGH, Beschluss vom 11. November 1970 – 4 StR 66/70; OLG Hamm, Beschluss vom 2. Juli 2007 – 3 Ss-OWi 360/07). Abstrakt ergibt sich dies bereits daraus, dass „eine Geldbuße verhängt werden kann, wenn schlechthin eine Ordnungswidrigkeit im Straßenverkehr begangen worden ist, dass ein Fahrverbot jedoch erst ausgesprochen werden darf, wenn bestimmte zusätzliche Qualifikationsmerkmale vorliegen, die den Unrechtsgehalt der Tat vergrößern, nämlich wenn ein Kraftfahrzeugführer grob oder beharrlich seine Pflichten verletzt hat und sich trotz der Buße nicht auf diese Pflichten besinnen wird“ (BGH, aaO) und ist auch daran zu erkennen, dass die Rechtsbeschwerde bei einer Geldbuße bis zu einem Betrag von 250 Euro der Zulassung bedarf, bei einem Fahrverbot aber immer statthaft ist. Aber auch konkret ist eine Beschwer nicht zu erkennen. Fraglich ist insoweit, ob eine Gesamtschau der verhängten Ahndungsmaßnahmen eine Veränderung zum Nachteil des Betroffenen erkennen lässt. Entscheidend ist dabei, ob und inwieweit die angemessene Erhöhung der Geldbuße beim Wegfall des Fahrverbots für den Betroffenen weniger drückend ist als eine Geldbuße bei gleichzeitigem Fahrverbot ist (BGH, aaO, OLG Hamm, aaO). Auch insoweit ist ein Nachteil des Betroffenen nicht zu erkennen:

 Den Urteilsgründen ist zu entnehmen, dass der Betroffene als Versicherungsvertreter tätig und hierfür auf sein Auto angewiesen ist. Es ist bereits auszuschließen, dass der im Falle eines einmonatigen Fahrverbotes drohende Verdienstausfall unter 400 Euro liegt. Denn so betrug im Jahr 2023 bereits der monatliche Regelbetrag nach dem SGB II (Bürgergeld) für Paare (wovon zugunsten des Betroffenen auszugehen ist) je Partner der Bedarfsgemeinschaft 451,00 Euro (Regelbedarfsstufe 2). Dass das monatliche Einkommen des Betroffenen aus der selbständigen Tätigkeit unterhalb dieses Betrages liegt, ist fernliegend, sodass bereits aus diesem Grund von einer Verschlechterung keine Rede sein kann. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass der Betroffene den Urteilsgründen zufolge sein Kfz auch für Fahrten zur Versorgung seiner pflegebedürftigen Tochter benötigt. Die Verhängung eines Fahrverbotes würde auch in diesem Zusammenhang zur Notwendigkeit weiterer finanzieller Aufwendungen etwa durch die Inanspruchnahme von Taxifahrten oder die Beschäftigung eines Fahrers führen. Jedenfalls in der Gesamtschau ist daher letztlich auszuschließen, dass der Betroffene durch die erhöhte Geldbuße schwerer beeinträchtigt wird als durch das Fahrverbot.“

 Dies sieht der Senat – wie nachfolgend unter Ziffer 3. b) noch ausgeführt wird – anders.

 2. Hinsichtlich des festgestellten Sachverhalts leidet das Urteil an einem Darstellungsmangel (hierzu unter a)). Im Rechtsfolgenausspruch weist es aufgrund unzureichender Feststellungen einen Erörterungsmangel hinsichtlich des Absehens vom Fahrverbot bei gleichzeitiger Erhöhung der Geldbuße auf (hierzu unter b))....

 

....

b) Mit der Generalstaatsanwaltschaft ist der Senat weiterhin der Auffassung, dass das Urteil des Amtsgerichts auch im Rechtsfolgenausspruch einer sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht standhält, soweit von der Anordnung eines Fahrverbotes abgesehen worden ist.

 Liegt der Regelfall der Anordnung eines Fahrverbots vor, wovon das Amtsgericht im Ausgangspunkt zutreffend ausgegangen ist, muss das Tatgericht prüfen, ob sich aus der Würdigung von Tat und Persönlichkeit des Täters besondere Umstände ergeben, aufgrund derer es ausnahmsweise der Warn- und Denkzettelfunktion eines Fahrverbotes nicht bedarf. Beabsichtigt es, aufgrund entsprechender Erwägungen im Einzelfall von der Verhängung eines Fahrverbotes abzusehen, so erfordert dies in den Urteilsgründen eine eingehende, auf Tatsachen gestützte Begründung, die es dem Beschwerdegericht ermöglicht, die Voraussetzungen für die Annahme einer unbilligen Härte rechtlich nachzuprüfen (OLG Hamm, Beschluss vom 3. März 2022 – 5 RBs 48/22 m.w.N.). Auch hieran fehlt es vollständig. Dem Urteil lässt sich nicht einmal entnehmen, dass der Betroffene selbst mit seinem Einspruch ein Absehen vom Fahrverbot hätte erreichen wollen und diesbezüglich nachprüfbare Angaben gemacht hätte. Die Rechtsbeschwerdebegründung spricht für das Gegenteil.

 3. Auf beiden Rechtsfehlern beruht das Urteil zum Nachteil des Betroffenen auch.

 a) Soweit das Amtsgericht Beweisvideos und Lichtbilder in Augenschein genommen hat, trägt der dem Senat zugängliche Inhalt des Urteils mangels wesentlicher Feststellungen die Verurteilung nicht. Der Senat kann das Urteil deshalb nicht auf seine sachlich-rechtliche Richtigkeit überprüfen, was dessen Aufhebung zwingend zur Folge hat (BGH, Urteil vom 20. Oktober 2021 – 6 StR 319/21 –, juris). Entsprechend war das Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen im Schuldspruch aufzuheben, weil dieser fehlerhaft sein kann und deshalb den Betroffenen beschwert.

 b) Auch im Rechtsfolgenausspruch ist der Betroffene nach Auffassung des Senates beschwert.

 Zwar führt die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend aus, dass unter dem Aspekt des Verschlechterungsverbots eine (erhöhte) Geldbuße gegenüber einem Fahrverbot die mildere Sanktion ist und deshalb auch auf ein Rechtsmittel allein zugunsten eines Betroffenen bzw. bei Anwendung von § 301 StPO verhängt werden darf (vgl. u.a. OLG Hamm, Beschluss vom 2. Juli 2007 – 3 Ss OWi 360/07 –, juris). Dieser Rechtsgedanke beruht allerdings auf einer abstrakten Differenzierung zwischen Geldbuße und Fahrverbot als unterschiedliche Sanktionen. Dies ist zu unterscheiden von der Frage, ob die rechtsfehlerhafte Anwendung dieser Sanktionsmöglichkeiten den Betroffenen dann konkret beschwert, wenn von der härteren Sanktion gegen Erhöhung der milderen Sanktion abgesehen wird. Würde die Beschwer unter dem Gesichtspunkt verneint, dass „nur“ auf eine mildere Sanktion erkannt wurde und ließe man dabei außer Betracht, dass diese nachteilig erhöht wurde, wäre es dem Rechtsbeschwerdegericht stets verwehrt, den Rechtsfolgenausspruch in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren zu überprüfen, wenn das Tatgericht von der härteren Sanktion des Fahrverbotes abgesehen hat. Damit wäre dem Rechtsbeschwerdegericht auch nicht mehr möglich nachzuprüfen, ob das Tatgericht die Wechselwirkung zwischen Geldbuße und Fahrverbot erkannt und dessen Bedeutung im Rechtsfolgenausspruch beachtet hat. Das sieht auch die Generalstaatsanwaltschaft offensichtlich nicht so, denn sie nimmt wirtschaftliche Erwägungen dahingehend vor, ob der Betroffene durch die Erhöhung der Geldbuße in der Gesamtschau beschwert ist und verneint dies im Ergebnis. Die diesbezüglichen Erwägungen sind jedoch hypothetisch und finden in den Urteilsgründen keine Stütze. Genau hieran zeigt sich aber, dass es dem Urteil umfassend an Feststellungen mangelt, die den Rechtsfolgenausspruch tragen könnten. Der Senat als Rechtsbeschwerdegericht kann nämlich eigene Erwägungen nicht anstelle des Tatrichters setzen. Dies folgt schon aus § 79 Abs. 6 OWiG, wonach eine eigene Entscheidung zwingend voraussetzt, dass die Feststellungen des Tatgerichts hierfür ausreichen.

 Die Beschwer des Betroffenen liegt nach Auffassung des Senats schon darin, dass die Geldbuße signifikant erhöht, nämlich verdreifacht, worden ist. Denn hierin liegt eine wirtschaftliche Beschwer innerhalb der verhängten Sanktion, die den Betroffenen zu Unrecht benachteiligen kann. § 4 Abs. 4 BKatV regelt nämlich, dass bei einem Absehen vom Fahrverbot die Geldbuße angemessen (Hervorhebung durch den Senat) erhöht werden soll. Hierin kommt die Wechselwirkung beider Sanktionen zum Ausdruck, deren Beachtung für das Rechtsbeschwerdegericht überprüfbar sein muss. Gleiches gilt für die innerhalb des Ermessensspielraums des Tatrichters maßgeblich zu berücksichtigenden Umstände, so u.a. die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen soweit sie entscheidungsrelevant sind. Auch wenn die Zumessungserwägungen des Tatrichters nur einer eingeschränkten Prüfung des Rechtsbeschwerdegerichts unterliegen, hat das Rechtsbeschwerdegericht zu prüfen, ob die tatrichterlichen Erwägungen ausreichend sind oder aber lückenhaft und in sich widersprüchlich. So liegt es hier. Mangels Feststellungen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen kann der Senat nicht überprüfen, ob die Erhöhung der Geldbuße um das Dreifache angemessen im Sinne von § 4 Abs. 4 BKatV ist und der Wechselwirkung zwischen Geldbuße und Fahrverbot hinreichend Rechnung getragen wurde. Die Feststellung des Amtsgerichts „Die Verdreifachung der Regelgeldbuße erfolgte unter Berücksichtigung der Gesamtumstände.“ stellt eine inhaltslose Floskel dar, weil das Urteil sich zu diesen „Gesamtumständen“ nicht verhält. Auch im Rechtsfolgenausspruch war das Urteil daher mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben.

 Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat ergänzend auf Folgendes hin:

 Durchgreifenden Bedenken dürfte der Schuldspruch auch im Hinblick auf die Annahme von Fahrlässigkeit begegnen. Zunächst genügen die tatsächlichen Feststellungen zu der Beschilderung nicht, soweit das Amtsgericht lediglich ausgeführt hat, die zulässige Geschwindigkeit sei „in diesem Bereich“ beschränkt. Auch verhält sich das Urteil nicht dazu, ob der Betroffene die Beschilderung wahrgenommen oder aber (nur) übersehen hat. Angesichts von fünf einschlägigen Vorerkenntnissen im FAER, davon allein drei im Jahr 2022, und der erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung um 32 km/h (ein Drittel der zulässigen Höchstgeschwindigkeit) hatte das Amtsgericht allerdings erhebliche Veranlassung, eine vorsätzliche Tatbegehung durch den Betroffenen zu prüfen. Insoweit lässt das Urteil unter Ziffer II besorgen, dass sich der Tatrichter dieser Möglichkeit gar nicht bewusst war, weil Erwägungen hierzu vollständig fehlen.

 Kann ein Fahrverbot aufgrund des insoweit geltenden Verschlechterungsverbots zwar nicht mehr angeordnet werden, so ist es dem Amtsgericht allerdings noch möglich, hinsichtlich der Schuldform neue Feststellungen zu treffen und die sich hierzu aufdrängenden Erwägungen anzustellen. Das Verschlechterungsverbot gilt für die Verurteilung wegen einer nachteiligen Schuldform nicht (KG, Beschluss vom 30. Januar 2023 – 3 ORbs 5/23 – 122 Ss 138/22 –, bei BeckRS), so dass ggf. die Regelbuße nach § 3 Abs. 4a BKatV zwingend zu verdoppeln wäre.

OLG Schleswig Beschl. v. 19.6.2024 – I ORbs 60/24, BeckRS 2024, 14022

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