Freispruch: Beweiswürdigung des Tatgerichts bei Indizien

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 18.09.2024
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|591 Aufrufe

Gibt es keine "direkten Beweise", sondern nur Indizien, so ist stets die Frage: "Reichen die Indizien, um das Gericht (rechtsfehlerfrei) überzeugen zu können oder nicht?" Der BGH hat gereade einmal wieder grundsätzlich zu dieser Problematik Stellung bezogen und dem Tatgericht weite Freiheiten eingeräumt:

 

a) Spricht das TatGer. den Angekl. frei, weil es auf der Grundlage einer Gesamtbewertung aller Umstände des Einzelfalls Zweifel an den Taten nicht zu überwinden vermag, so hat das RevGer. dies grundsätzlich hinzunehmen; denn die Beweiswürdigung ist vom Gesetz dem TatGer. übertragen (§ 261 StPO). Es obliegt allein ihm, sich unter dem zusammenfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld des Angekl. zu bilden. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm bei der Beweiswürdigung ein Rechtsfehler unterlaufen ist. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen ein Denkgesetz oder einen gesicherten Erfahrungssatz verstößt oder erkennen lässt, dass das TatGer. überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Überzeugung gestellt hat.

 Liegt ein Rechtsfehler nicht vor, hat das RevGer. die tatrichterliche Überzeugungsbildung auch dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise möglich oder sogar näherliegend gewesen wäre. Gleichermaßen Sache des TatGer. ist es, die Bedeutung und das Gewicht der einzelnen be- und entlastenden Indizien zu bewerten. Das RevGer. ist insoweit auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt und nicht befugt, auf der Grundlage einer abweichenden Beurteilung der Bedeutung der Indiztatsachen in dessen Überzeugungsbildung einzugreifen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urt. v. 2.11.2023 – 3 StR 249/23, NStZ 2024, 186 Rn 9 mwN).

 b) Die Nachprüfung der dem Teilfreispruch zu Grunde liegenden Beweiswürdigung hat nach den vorgenannten Maßstäben keinen Rechtsfehler ergeben.

 aa) Ohne dass dagegen von Rechts wegen etwas zu erinnern wäre, hat sich die StrK gehindert gesehen, weitere Taten allein auf der Grundlage der – im Einzelnen nachvollziehbar als inkonstant und widersprüchlich bewerteten – Angaben der Nebenkl. festzustellen.

 bb) Entgegen den Ausführungen des GBA enthält die Beweiswürdigung keinen unaufgelösten Widerspruch. Zwar ist das LG auf der Grundlage der Videoaufnahmen als objektiver Beweismittel davon überzeugt gewesen, dass zwischen dem Angekl. und der Nebenkl. nicht nur am 4.12.2020, sondern bereits zuvor mehrfach sexuelle Handlungen stattfanden. Es hat sich indessen an einer Verurteilung des Angekl. wegen weiterer anklagegegenständlicher Sexualdelikte ohne Rechtsfehler mangels zu den unzureichenden Angaben der Nebenkl. hinzutretender – anderer – objektiver Beweismittel gehindert gesehen. Eine Zuordnung solcher früheren sexuellen Handlungen zu einer oder mehrerer der verbleibenden dem Angekl. vorgeworfenen, mit dem Anklagesatz individualisierten Taten ist der StrK nicht möglich gewesen. Auch soweit die Nebenkl. zur verurteilten Tat überschießende Umstände bekundet hat, die zusätzliche – nicht ausgeurteilte – Straftatbestände erfüllen, hat das LG dem auf Grund einer ausführlichen und sorgfältigen Aussageanalyse insofern nachvollziehbar keinen Glauben zu schenken vermocht, als die Angaben nicht in den Tatvideos eine Stütze gefunden haben.

 cc) Ein abweichendes Ergebnis lässt sich nicht aus einer für Fälle gleichförmiger Serientaten in der Rspr. anerkannten Absenkung der Feststellungsanforderungen herleiten.

 Hiernach kann ein Gericht gehalten sein, bei der Bestimmung des Schuldumfangs unter Beachtung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ einen über den als erwiesen angesehenen Verurteilungsfall hinausgehenden Mindestschuldumfang festzustellen. Denn zur Vermeidung unvertretbarer Strafbarkeitslücken auf Grund der Feststellungsschwierigkeiten solcher oft gleichförmig verlaufenden Taten über einen langen Zeitraum zum Nachteil von Kindern und/oder Schutzbefohlenen, die in der Regel allein als Beweismittel zur Verfügung stehen, dürfen keine überzogenen Anforderungen an die Individualisierbarkeit der einzelnen Taten im Urteil gestellt werden. Das TatGer. muss sich aber in nachvollziehbarer Weise zumindest die Überzeugung verschaffen, dass es in einem gewissen Zeitraum zu einer bestimmten Mindestzahl von Straftaten gekommen ist. Dabei steht nicht in erster Linie die Ermittlung einer Tatfrequenz, sondern die des konkreten Lebenssachverhalts im Vordergrund; dieser ist ausgehend vom Beginn der Tatserie mit den unterschiedlichen Details etwa zu Tatausführung und Tatort der einzelnen Straftaten in dem gegebenen Tatzeitraum nach dem Zweifelssatz festzustellen und abzuurteilen (vgl. BGH, Urt. v. 30.10.2008 – 3 StR 375/08, BeckRS 2008, 25606 Rn 12 [insow. in NStZ 2009, 444 n. abgedr.]; Beschl. v. 25.3.2010 – 5 StR 83/10, BeckRS 2010, 9036 Rn 8; v. 16.5.1994 – 3 StR 118/94, BGHR StGB § 1 Kindesmissbrauch 2 = NStZ 1994, 393; jew. mwN).

BGH NStZ-RR 2024, 288

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