Steckt die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen in einer Krise?

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 20.06.2010

In seiner empirischen Untersuchung "Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen" aus dem Jahr 1989 (derzeit wohl vergriffen; hier aber zumindest die online-Ergänzung) stellte Prof. Barton fest, dass trotz ihrer herausragenden Bedeutung für Praxis und Wissenschaft die Revisionsrechtsprechung des BGH in ihrem praktischen Entscheidungsprogramm sich in weiten Bereichen vom kodifizierten Gesetzesprogramm gelöst habe (S. 284/285). Die ebenso interessante wie wichtige Studie fand leider so gut wie keine Resonanz in der strafrechtlichen Diskussion. Offensichtlich köchelten aber die in der Publikation behandelten Unterschiede der Strafsenate im informellen Entscheidungsablauf und den damit verbundenen Ergebnissen weiter und waren nun auf dem 13. Strafverteidiger-Frühjahrssymposium in Karlsruhe plötzlich eines der wichtigen Themen, wie der Kommentar von Gisela Friedrichsen belegt (mit lesenswerten Zuschriften). Mit einiger Verzögerung liegt das Thema nun auf dem Tisch!

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7 Kommentare

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Wenn es eine, nach meinem Dafürhalten, überflüssige Gerichtsinstanz gibt, dann ist das der BGH. Folgendes: Versuchen Sie mal meinen Revisionsverwerfenden Beschluß 1 StR 317/05, vom 10.August 2005, auf der Homepage des BGH zu finden. Soweit, so schlecht. Auf schriftliche Anfrage, konnte ich mir auch keine Kopie des Beschlusses schicken lassen. Es gab den Beschluss garnicht!! Er liegt aber hier auf meinem Schreibtisch !!!!

Zudem ist einer der unterschreibenden Ri des Rev.-Verwerfers in einer anderen Entscheidung des BGH als "in Urlaub" vermerkt. Auf meiner Papierkopie jadoch fehlt dieser Vermerk..........

Dahingehend meine Vermutung, dass mir die Revision, bzw. der verwerfende Beschluß etwa nur "vorgegaukelt" wurde (??)......

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Mag mir jemand den Beitrag von Herrn Kudlich zusammenfassen? Ich habe nach der Hälfte von Punkt 1 und dem dritten Einschub in der vierten Klammer des siebten Nebensatzes aufgegeben.

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Besten Dank für die freundliche Reaktion auf meine Faulheit und die Zusammenfassung.

Was Sie beschreiben erinnert mich an das, was im Studium zynisch als die "BGH-Schweinehund-Theorie" bekannt war. Ist der Angeklagte ein Schweinehund? Wenn ja, kriegen wir ihn auch dran, egal was im Gesetz steht. Unter zur Hilfenahme dieser Erwägung ließen und lassen sich BGH Entscheidungen zum Strafrecht mit großer Treffsicherheit vorhersagen.

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  Man kann nur sehr begrüßen, dass im blog diese Diskussion aufgegriffen wird. Professor Kudlichs erster  Beitrag war zwar lang, aber zu Recht ausdifferenziert. Eine einfache Antwort auf die gestellte Frage gibt es nicht. In dem Beitrag von Gisela Friedrichsen wird auf die Äußerung des erfahrensten Revisionsrechtlers Professor Widmaier beim Karlsruher Frühjahrs-Symposium hingewiesen. Dieser kam zum Ergebnis, die Revision sei ein frustrierendes (oder deprimierendes) Geschäft  geworden. Völlig unbestritten ist, dass der 1. Strafsenats außerordentlich viele Urteile hält. Dies kann im Verhältnis etwa zum 3. Strafsenat nur erstaunen. Oder sollten die bayerischen und württembergischen Gerichte so viel bessere Urteile fällen und begründen als diejenigen in anderen Bundesländern? Vielleicht ist allerdings der 1. Senat auch nicht beschuldigtenfreundlicher als andere, sondern vielmehr tatrichterfeundlicher? Dagegen spricht, dass der Senat neuerdings auch „Zusatzprozessordnungen“ schafft, die stets die Rechte des Beschuldigten beschränken, nicht etwa erweitern (zuletzt die sog „Fristenlösung“ im Beweisantragsrecht).  Dafür spricht allerdings, dass auch Revsionen der Staatsanwaltschaft oft  kein Erfolg beschieden ist. Nach meiner Überzeugung tut es der Kultur der Instanzgerichte jedenfalls nicht gut, wenn auch nur der Eindruck entsteht, es bestehe nur eine sehr geringe Gefahr, aufgehoben zu werden. Denn, der BGH ist nicht überflüssig (so Beitrag #2), sondern wichtiges, zwingendes Korrektiv. Andernfalls ist die Situation erstaunlich: der kleine „Hühnerdieb“ hat beinahe vier Instanzen (Strafbefehl, darauf Einspruch und Hauptverhandlung, Berufung, Revision), in den großen Wirtschaftsstrafrechtsfällen bleibt das Landgericht die einzige (denn der neue § 257 c leistet hier den Rest). Und niemandem tut es gut, sich nicht kontrolliert zu fühlen. Ich persönlich glaube aber an einen prozessualen Gerechtigkeitsbegriff. Wenn jedoch die These richtig ist, dass auch der BGH inzwischen den Blick auf den „Fall“ richtet und nicht die bloße Rechtmäßigkeit von Entscheidung und Verfahren beurteilt und damit die Normanwendung im Mittelpunkt steht, geht davon ein Stück verloren und die Frage nach der Krise ist berechtigt.

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Hinzu tritt, daß der BGH die Anforderungen an eine ordnungsgemäß erhobene Verfahrensrüge ständig weiter verschärft. Fast unmöglich ist es geworden, die Verfahrenstatsachen erschöpfend darzulegen. Der BGH betont, es sei dem Revisionsgericht verwehrt, selbst die Akten zu durchforsten. Alles müsse sich aus der Revisionsbegründung selbst ergeben. Das ist zwar revisionsrechtlich im Grunde zutreffend, jedoch auch unehrlich. Natürlich liest das Revisionsgericht die Akten. Und in ihm geeignet erscheinenden Fällen, darf plötzlich auf wunderbare Weise im "Freibeweisverfahren" aus den Akten ergänzt werden, was die Revision versäumt hatte vorzutragen bzw. gar nicht vortragen wollte.

 

Den Ausführungen von Herrn Kudlich kann man sich als Verteidiger nur anschließend. Eine treffende Analyse.

 

 

 

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Guten Tag Herr Professor:

 

Korrigierend und ergänzend zu Ihrem Hinweis: M.E.n. erschien die Barton-Studie 1999 (bei Luchterhand). Dazu verständig -> Andreas Geipel, Die geheimen contra legem Regeln im ordentlichen Prozess. Ein kritischer Bericht aus der Praxis zur Existenz geheimer contra legem Regeln; in: Anwaltsblatt 12/2006: 784-788, hier zitiert 787:

„III. Die contra legem wahr gewordene Befürchtung vor einem aus der Luft greifen und Zurechtmachen
von Entscheidungsgründen

Als die freie Beweiswürdigung in Deutschland eingeführt wurde, gingen die Befürchtungen dahin, dass die Entscheidungsgründe aus der Luft gegriffen und je nach Bedarf zurechtgemacht werden würden. Diese Befürchtungen haben sich mangels effektiver Kontrolle durch das übergeordnete Gericht zum Großteil bewahrheitet. Derartige Fälle, die jeder Anwalt aus seiner Praxis berichten kann, sind Legion.

1. Zur strafrechtliche Revision: Hier kann statt eines Beispiels auf die empirische Untersuchung von Barton über das Schicksal eingelegter Revisionen verwiesen werden. Als deren Ergebnis stellt sich die Frage an die Prozessbevollmächtigten, „ob sie an einem ,Spiel’ teilnehmen wollen, dessen Regeln durch die Schiedsrichter [die Richter] flexibel [ergo zurechtgemacht] gehandhabt werden.“ „Die für die Strafrechtswissenschaft wichtigste Konsequenz sollte sein, dass man nicht weiter davon ausgehen darf, in der BGH-Rechtsprechung funktioniere alles so, wie es im Gesetz steht.“

2. Zur zivilrechtlichen Berufung: In der Praxis sind vor allem zwei Formeln (v. a. bei Angriffen gegen die Beweiswürdigung) vorherrschend, die sich auf jeden beliebigen Fall – je nach Bedarf – anwenden lassen: Rügt der Berufungsführer, dass Entscheidungserhebliches nicht gewürdigt wurde, so wird dem regelmäßig entgegnet, dass sich der entsprechende Punkt zwar nicht expressis verbis, aber aus den sonstigen Umständen ergäbe (sog. „Ergebensfälle“). Wäre das aber so, so hätte das auch dem Berufungsführer auffallen müssen, statt eine dann sinnlose Berufung einzulegen. Es ist offensichtlich, dass das Argument, dass der Punkt zwar genannt werden hätte müssen, aber sich aus den Umständen ergibt, dem Belieben Tür und Tor öffnet. Auch diese Begründung erfolgt contra legem, denn § 286 I Satz 2 ZPO verlangt, dass die wesentlichen Gründe anzugeben sind und nicht, dass sich diese Gründe aus anderen, Gründen mehr oder weniger vermuten lassen. Rügt der Berufungsführer, dass bestimmte, in den Entscheidungsgründen niedergelegte Punkte einen Rechtsfehler aufweisen, so wird dem oft entgegnet, dass dieser Punkt kein entscheidendes Gewicht – trotz seiner expressis verbis Ausführung-hatte, sondern lediglich „der Abrundung diente“ (sog. „Abrundungsfälle“). Damit können die ausdrücklich vorliegenden Entscheidungsgründe je nach Bedarf – als lediglich der Abrundung dienend und damit eigentlich irrelevant erachtet werden, oder nicht. Das wiederum führt zu der contra legem Regel, dass in den „Abrundungsfällen“ in den Gründen Genanntes entgegen §§ 286 I Satz 2, 313 darstellen soll.

IV. Fazit Das gegenwärtige System führt dazu, dass die Wahrheitsfindung oft „auf der Strecke“ bleibt und es statt dessen nur noch um eine Prozessfassade geht. Es ist daher nicht weniger Rechtsschutz für die Bürger erforderlich, sondern mehr. Der Befund von Geiger von 1982 gilt heute mehr denn je: „Führe möglichst keinen Prozess; der außergerichtliche Vergleich oder das Knobeln erledigt den Streit – allemal rascher, billiger und im Zweifel ebenso gerecht wie ein Urteil.“

 

Freundliche Grüße

Dr. Richard Albrecht
http://wissenschaftsakademie.net

 

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BGH-ou-Praxis

 

Die hier bemühte „Schweinehund“-Praxis ist m.E.n. nicht auf den ganzdeutschen BGH beschränkt, die zuletzt von RA Burhoff geschilderte besondere ou-Spruchpraxis des BGH[1] geht freilich noch übers obergerichtlich exzessive „offensichtlich unbegründet“ mit Ihrem contradictio-in-adiecto, nämlich das Diktum „offensichtlich unbegründet“ dann doch seitenlang zu „begründen“, die hier eingangs von RA KArsten fallbezogen geschilderte besondere BGH-Praxis schließlich ist als bürokratische Machttechnik auch nicht ganz unbekannt und erfährt m.W. in Britain die Kennzeichnung „fraudulent redressal“ (dt. etwa Bearbeitung nur zum Schein).

 

Um nicht ständig auf der Ebene der fallbezogenen Einzelheiten stehn zu bleiben, sondern sozialwissenschaftlich-konkret zu argumentieren: Meine an des-Kaisers-Kleider-Anekdote („Er ist ja nackt“) geschulte plausible Arbeitshypothese lautet: der BGH, „das oberste Gericht der Bundesrepublik Deutschland im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit“[2], wirkt in der Rechtspraxis empirisch nicht als Revisionsgericht … Was zu falsifizieren wäre (q.e.f.).

 

[1] http://blog.strafrecht.jurion.de/2010/08/der-sermon-der-revisionsgericht...

 

[2] http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/DerBGH/broschuer...

 

Mit freundlichem Gruß

Dr. Richard Albrecht

http://wissenschaftsakademie.net

 

 

 

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