Rolle rückwärts: Keine Nichtigkeitsklage bei Rüge der Nichtanrufung des EuGH

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 26.03.2024

Ist eine Partei der Auffassung, das BAG habe ihm den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) dadurch entzogen, dass es den Rechtsstreit entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt, sondern selbst "durchentschieden" habe, kann sie dies mit der Verfassungsbeschwerde rügen (ständige Rechtsprechung seit BVerfG, Beschl. vom 22.10.1986 - 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (366 ff.) - Solange II). Durch den Beschluss des BVerfG vom 27.4.2021 (1 BvR 2731/19, IStR 2021, 556) waren Zweifel aufgekommen, ob vor der Verfassungsbeschwerde zunächst (erfolglos) Nichtigkeitsklage erhoben worden sein muss, § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Das BAG hat eine solche Klage 2022 für zulässig, im Streitfall aber für unbegründet gehalten (BAG, Urt. vom 28.7.2022 - 6 AZR 24/22, NZA 2022, 1492 und mehrere Parallelverfahren vom gleichen Tage; Verfassungsbeschwerde mittlerweile anhängig (1 BvR 1198/22), vgl. Jungbauer, NZA 2024, 304 (306)).

Nachdem bereits der BFH entschieden hat, dass in derartigen Konstellationen eine Nichtigkeitsklage unstatthaft ist (BFH, Urt. vom 10.10.2023 - IX K 1/21, IStR 2023, 873), hat sich nun auch der Sechste Senat des BAG von seiner zwischenzeitlich gegenteiligen Auffassung verabschiedet und dem BFH angeschlossen. Die Pressemitteilung lautet knapp:

Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat über eine Nichtigkeitsklage entschieden, mit der eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gerügt wurde, weil der Senat bei Erlass der angegriffenen Entscheidung vom 8. November 2022 seine Vorlageverpflichtung an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV verletzt habe.

Der Senat hat im Anschluss an das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 10. Oktober 2023 (- IX K 1/21 -) die Nichtigkeitsklage als nicht statthaft angesehen. Die Verkennung einer Vorlageverpflichtung (durch das vorschriftsmäßig besetzte Gericht) ist kein Besetzungsmangel iSd. § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Die Nichtigkeitsklage gehört in diesen Fällen auch nicht zu dem zu erschöpfenden Rechtsweg iSd. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Insoweit kann die Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter vielmehr unmittelbar mit der Verfassungsbeschwerde gegen die letztinstanzliche Entscheidung geltend gemacht werden.

Das Ausgangsverfahren betraf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses einer Flugbegleiterin im Rahmen der AirBerlin-Insolvenz. 2022 hatte das BAG die Revision zurückgewiesen und damit die Kündigung des Insolvenzverwalters bestätigt (Urt. vom 8.11.2022 - 6 AZR 16/22, AP KSchG 1969 § 17 Nr. 65), ohne den EuGH um Vorabentscheidung zur Auslegung der Massenentlassungs-Richtlinie 98/59/EG zu ersuchen.

BAG, Urt. vom 21.3.2024 - 6 AZR 45/23, Pressemitteilung hier

 

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