Zu Gunsten und zu Ungunsten? Bei Bagatellgrenzen kommt es zum Schwur (FG Nürnberg v. 12.12.2023 – 1 K 1572/20)

von StB Dr. Martin Weiss, veröffentlicht am 23.07.2024
Rechtsgebiete: Steuerrecht|2905 Aufrufe

Alles oder nichts“ – bei der „Seitwärtsabfärbung“ nach der ersten Alternative des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 EStG geht es immer um viel. Als Gewerbebetrieb gilt danach in vollem Umfang die mit Einkünfteerzielungsabsicht unternommene Tätigkeit einer offenen Handelsgesellschaft, einer Kommanditgesellschaft oder einer anderen Personengesellschaft, wenn die Gesellschaft auch eine Tätigkeit im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ausübt. Nach dem Satz 2 des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG gilt diese Regelung unabhängig davon, ob aus der Tätigkeit im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ein Gewinn oder Verlust erzielt wird (BFH v. 30.6.2022 – IV R 42/19, BeckRS 2022, 28754). Folge ist ua, dass damit auch ein Gewerbebetrieb für Zwecke des Gewerbesteuergesetzes vorliegt (§ 2 Abs. 1 Satz 2 GewStG), da die Fiktion des § 15 Abs. 3 EStG auch insoweit beachtlich ist (H 2.1 Abs. 2 GewStH, „Umfassender Gewerbebetrieb einer Personengesellschaft“; BFH v. 9.3.2023 – IV R 25/20, BeckRS 2023, 8268 Rn. 12). Die Steuerermäßigung nach § 35 EStG gleicht die entstehende Mehrbelastung nur in seltenen Fällen vollständig aus.

Das „Fallbeilprinzip“, das in der Konjunktion „wenn“ in § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 EStG angelegt ist, sorgt in der Praxis der Steuerberatung für Unmut. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Regelung ua deswegen für verfassungsgemäß gehalten, weil nach der Rechtsprechung des BFH „einer originär gewerblichen Tätigkeit von äußerst geringem Ausmaß keine die übrige Tätigkeit der Personengesellschaft nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG prägende Wirkung zukommt“ (BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BeckRS 2008, 35885 Rn. 131). Dementsprechend hatte die Rechtsprechung des BFH eine Umqualifizierung nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG in Einkünfte aus Gewerbebetrieb abgelehnt, wenn die originär gewerblichen Nettoumsatzerlöse 3 % der Gesamtnettoumsatzerlöse der Gesellschaft und den Betrag von 24.500 € im Veranlagungszeitraum nicht übersteigen (H 15.8 Abs. 5 EStH, „Bagatellgrenze“, 1. Spstr.). Auch die zweite Alternative des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 EStG („Aufwärtsinfektion“) geriet in der Folge in die Diskussionen rund um eine mögliche Bagatellgrenze, die bis heute nicht vollständig abgeschlossen sind (BFH v. 5.9.2023 – IV R 24/20, DStR 2023, 2491 Rn. 61 ff. einerseits; Oberste Finanzbehörden der Länder vom 1.10.2020, DStR 2020, 2252 andererseits).

Eine Kodifizierung derartiger Bagatellgrenzen wäre wünschenswert – auch wenn der BFH diese zuletzt in seiner Rechtsprechung zur Seitswärtsabfärbung bestätigt und in ihrem Anwendungsbereich auch auf das Zusammentreffen mit rein vermögensverwaltenden Tätigkeiten ausgedehnt hat (BFH v. 30.6.2022 – IV R 42/19, BeckRS 2022, 28754). Als Vorbild kann die Ergänzung des § 9 Nr. 1 S. 3 Buchst. c GewStG durch das Fondsstandortgesetz (v. 3.6.2021, BGBl. 2021 I 1498) dienen, die die „Fallbeilregelung“ bei der Mitvermietung von Betriebsvorrichtungen für Zwecke der erweiterten Kürzung des § 9 Nr. 1 Satz 2 ff. GewStG (zB BFH v. 18.12.2019 – III R 36/17, BeckRS 2019, 41726) abgemildert hat. Bislang hat sich der Gesetzgeber dazu bei § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG jedoch nicht durchgerungen, auch wenn er nach Meinung des BFH „in der Begründung des Gesetzentwurfs deutlich gemacht [hat], dass die von der Rechtsprechung entwickelte Bagatellgrenze bei Anwendung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 1 EStG n.F. – und damit in den Fällen einer Seitwärtsabfärbung – weiterhin zu beachten ist“ (BFH v. 5.9.2023 – IV R 24/20, BeckRS 2023, 30818 Rn. 69).

Die Finanzbehörden haben die Steuern gemäß § 85 Satz 1 AO nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben. Was also, wenn von der Rechtsprechung „in die Welt gesetzte“ Regelungen den Steuerpflichtigen benachteiligen? Zuletzt ergab sich diese Problematik bei der Betriebsaufspaltung, bei der der BFH seine Rechtsprechung zur mittelbaren Beherrschung im „Besitzzweig“ zu Lasten der Steuerpflichtigen veränderte (BFH v. 16.9.2021 – IV R 7/18, BeckRS 2021, 44488; nicht bei der kapitalistischen Betriebsaufspaltung, BFH v. 22.2.2024 – III R 13/23, BeckRS 2024, 8865), ohne eine Übergangsregelung damit zu verbinden. Die Frage, ob die entsprechende Übergangsregelung der Finanzverwaltung (Oberste Finanzbehörden der Länder v. 22.11.2022, DStR 2022, 2504) auch zu Lasten des Steuerpflichtigen angewendet werden kann, ist dementsprechend umkämpft (Heil/Pupeter, DB 2023, 546, 547).

So jetzt auch bei den Bagatellgrenzen des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG: Wer die dadurch ausgelöste Gewerblichkeit möchte – etwa weil er Teilwertabschreibungen (§ 6 Abs. 1 Nr. 1, 2 EStG) geltend machen will – fragt sich, ob die Finanzbehörde ihm die Grenzen entgegenhalten kann. Bei der vermögensverwaltenden Klägerin in einem Verfahren vor dem FG Nürnberg (Urteil v. 12.12.2023 – 1 K 1572/20, BeckRS 2023, 47013; Rev. BFH IV R 5/24) löste eine Photovoltaikanlage die Problematik aus. Da im Streitjahr 2010 noch keine „Nettoumsatzerlöse“ aus dieser Tätigkeit erzielt wurden, hat das FG Nürnberg zwar die Vorausetzungen der Bagatellgrenzen als „formal“ erfüllt angesehen. Dennoch hat es diese nicht zu Lasten der Klägerin angewendet: Eine „Regelungslücke“, die zu Ungunsten des Steuerpflichtigen durch Auslegung zu schließen wäre, konnte es nicht erkennen.

All diese Unsicherheiten sprechen m.E. weiterhin für eine Kodifizierung der Bagatellgrenzen in § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG nach dem Vorbild des § 9 Nr. 1 Satz 3 GewStG idF des Fondsstandortgesetzes…

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