Ein Verfahren mit Signalwirkung: John Demjanjuk haftfähig und mit Haftbeschwerde gescheitert

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 14.05.2009

Der 89-jährige John Demjanjuk, dem die Staatsanwaltschaft München I Beihilfe zum Mord in mindestens 29.000 Fällen im nationalsozialistischen Vernichtungslager Sobibor zur Last legt, ist haftfähig und bleibt in Untersuchungshaft, nachdem das OLG München seine Haftbeschwerde gestern zurückgewiesen hat. Ob er auch verhandlungsfähig ist, klärt gegenwärtig ein medizinisches Gutachten.

Es geht um Gerechtigkeit für die Opfer von Sobibor, denen wenigstens ein rechtsstaatliches Verfahren geschuldet wird. Viele mutmaßliche NS-Täter blieben viel zu lange unbehelligt, weil kaum Interesse an der Strafverfolgung bestand. Dass die deutsche Justiz jetzt nicht mehr wegschaut und sich bemüht, NS-Unrechtstaten auch heute noch aufzuklären, ist ein wichtiges Signal. Das Demjanjuk-Verfahren muss nicht das letzte seiner Art sein. Noch leben Täter und Opfer!

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9 Kommentare

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Sehr geehrter Herr Professor,

mein gesunder Menschenverstand sagt mir: NS-Verbrechen müssen unbedingt - gerade auch heute noch - abgeurteilt werden.

Aber wo ist hier eigentlich das Rückwirkungsverbot geblieben???

Art. 103 II GG lässt keine Ausnahmen von dem Grundsatz "nulla poena sine lege" zu. Die EMRK macht in ihrem Art. 7 II zwar eine Ausnahme, indem eine nachträgliche Strafverfolgung möglich sein soll, wenn die in Frage stehende Handlung "zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war". Soweit ich weiß, hat die BRD jedoch gegenüber dem Art. 7 II EMRK einen Vorbehalt zugunsten der grundgesetzlichen Regelung des Rückwirkungsverbotes erklärt....? Damit hat die Bundesregierung doch gerade zum Ausdruck gebracht, dass das Rückwirkungsverbot eben ohne Ausnahme gelten soll! Und außerdem genießt das GG gegenüber der EMRK Vorrang, so dass das Rückwirkungsverbot selbst ohne den erklärten Vorbehalt ohne Ausnahme gelten würde!

Man kann doch nicht einfach den Art. 103 II GG durchbrechen, indem man von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen (die ja bei den NS-Verbrechen unstreitig vorliegen) spricht und deshalb den Art. 103 II GG einfach ignoriert..?

An anderer Stelle habe ich gelesen, man könnte dem Art 103 II GG eine dem Art. 7 II EMRK ähnliche Ausnahmevorschrift beifügen, die für solch schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot vorsieht. Tja, warum eigentlich nicht? Gerade in Deutschland, das immer noch mit seiner NS-Vergangenheit zu kämpfen hat, müsste eine solche Änderung des Grundgesetzes doch wohl die erforderlichen Mehrheiten kriegen.

Im Rahmen meiner juristischen Ausbildung würde ich mir jedenfalls nie, nie, NIE erlauben, eine Vorschrift des Grundgesetzes nicht zu beachten, weil ich sie gerade als "ungerecht" oder "unpassend" empfinde.

Wie eingangs erwähnt, halte ich die juristische Aufarbeitung der Naziverbrechen für äußerst wichtig und geboten, aber sorry, die juristische Grundlage dafür kapiere ich nicht.... Vielleicht kann mir hier ja jemand weiterhelfen!

Viele Grüße

 

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Ich darf als "Kollege" mal meine Ansicht kundgeben:

Angeklagt ist Herr Demjanjuk nicht wegen Menschenrechtsverletzungen nach dem VStGB oder der EMRK, sondern wegen Beihilfe zum Mord. Dieser Tatbestand war auch 1944/45 in Deutschland zweifelsfrei ein Verbrechen. Zum Zeitpunkt der Taten lag zwar die Verjährungsfrist bei 20 Jahren; sie wurde 1969 auf dreißig Jahre verlängert, 1979 ganz abgeschafft (§ 78 II). Die Verjährung einer Tat (hier die Verfolgungsverjährung) fällt allerdings nach h.M. nicht unter das Rückwirkungsverbot (ich darf mal das BVerfG zitieren: "[Art. 103 II GG] verhält sich nur über das "von wann an", nicht über das "wielange" der Strafverfolgung", BVerfGE 25, 269 (286f.)). Das ist auch durchaus nachzuvollziehen, denn eine Tat wird ja nicht dadurch rechtens, dass sie verjährt, sondern sie kann höchstens zum Zeitpunkt ihrer Ausführung (noch) rechtens gewesen sein.

Die in der EMRK angedeutete Rückwirkung (die an der Argumentation der Nürnberger Prozesse entlangschlittert) ist grundsätzlich allerdings ein Problem; sie müsste eigentlich zumindest für die Zeit vor 1945 am Art. 103 II GG scheitern. Eine Anklage von Herrn Demjanjuk unter Völkerstrafrecht wäre wohl vom Rechtsgefühl zu befürworten, sie ist nur hier vor allem eines, nämlich nicht nötig, denn der Mann ist 89 Jahre alt und wird wohl jede Gefängnisstrafe nicht mehr überleben.

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Mit dem ReichsStGB kenne ich mich nicht aus, aber war denn zum fraglichen Zeitpunkt der Mordtatbestand überhaupt einschlägig? Insassen eines Vernichtungslagers zu töten, wurde im Dritten Reich wohl eher nicht als Mord, bzw. überhaupt als eine Straftat, gewertet.

Gruß 

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@ Studentin:

1. Semester?

Das Reichsstrafgesetzbuch ist das ja - mit zwischenzeitlichen Änderungen - nichts anderes das heutige StGB (verkündet 15. 05. 1871). Das heißt Mord stand damals genauso in § 211 wie heute.

Dass eine Straftat zur Zeit ihrer Begehung durch die Staatsanwaltschaften pflichtwidrig (denn auch damals galt § 152 II StPO) nicht verfolgt wurde, ändert ja nichts am Vorliegen der materiellrechtlichen Tatbestandsmerkmale. Sie können also innerhalb der Verjährungsfrist jederzeit neu verfolgt werden.

Gegenläufige Befehle der militärischen Vorgesetzten, die sich letztendlich vermutlich auf einen Führerbefehl stützen, sind keine tauglichen Rechtfertigungsgründe, da sie nicht von der Befolgung eines formellen Gesetzes befreien können. Das ist auch heute nicht anders - Befehle, die zur Begehung einer Straftat auffordern, sind unbeachtlich, vielmehr macht sich der Befehlsempfänger selbst strafbar. Allenfalls kann man über einen entschuldigenden Verbotsirrtum nachdenken.

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Es freut mich, dass sich gerade für dieses Thema Studierende interessieren, das ja - wie man sieht - einige interessante Fragen aufwirft :

An sich ist zwischenzeitlich alles gesagt. Gleichwohl nochmals zusammengefasst: Das StGB gilt seit 15.5.1871 (Neubekanntmachung ab 1.1.1999). NS-Verbrechen (in Unterscheidung zu NS-Kriegsverbrechen als Verletzung der internationalen Kriegsregeln) als Sammelbegriff für besonders schwere und Unrechtshandlungen, die im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen 1933 und 1945 in Deutschland und im besetzten Europa begangen wurden (insbesondere Judenverfolgung und -vernichtung, Inhaftierung und Misshandlung in Konzentrationslagern, Morde an politischen Gegnern), waren auch nach damaligen Strafrecht strafbar. Die Rückwirkungsproblematik stellt sich also nicht. 

Speziell zur Verjährung, weil hier die Entwicklung "bezeichnend" (Umgang der Politik wie Justiz mit NS-Verbrechen) ist: Für Mord hat das 16. StRÄndG in § 78 Abs. 2 StGB die Verjährung ausgeschlossen. Der Ausschluss gilt rückwirkend für alle noch nicht verjährten Taten und erfasst - dies war das Ziel der Regelung - insbesondere die NS-Verbrechen, deren Verjährung mangels hinreichender Aufklärung noch nicht unterbrochen werden konnte. Der zeitliche Anwendungsbereich beruht auf dem Ineinandergreifen verschiedener Regelungen: Seit 1939 galt für Mord eine Verjährungsfrist von 20 Jahren. Sie ruhte, solange die von Staats wegen begangenen Morde entsprechend dem Willen der Staatsführung unverfolgt blieben (BVerfGE 1, 418 [425]; BGHSt 18, 271; 23, 137; BGH NJW 1962, 2308). Nach dem Ende des 2. Weltkriegs drohte erstmals am 8.5.1965 Verjährungseintritt . Deshalb erging das so genannte Berechnungsgesetz, das anordnete, dass bei der Berechnung der Verjährungsfrist die Zeit vom 8.5.1945 bis 31.12.1949 außer Ansatz bleibt (dazu BVerfGE 25, 269). Die damit an sich am 31.12. 1969 endende zwanzigjährige Verjährung verlängerte der Gesetzgeber dann auf 30 Jahre, also bis Ende 1979. Seit dem 16. StRÄndG gilt: Mord verjährt nicht. Ein ziemliches Durcheinander, deshalb nicht unumstritten, das aber Rechtsprechung und herrschende Lehre im Ergebnis so tragen. 

 

Literaturempfehlungen:

Ingo Müller "Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz", Knaur Taschenbuch

Irmtrud Wojak "Fritz Bauer 1903- 1968. Eine Biographie", 2009; das Buch werde ich demnächst im Blog besprechen

Die Titelgeschichte im aktuellen SPIEGEL Nr. 21 vom 18.5.2009 befasst sich mit den "Komplizen", mit den über 200.000 Nichtdeutschen, die den von Deutschen begangenen Holocaust unterstützten - der Vorwurf, der auch dem Ukrainer John Demjanjuk zur Last liegt. Am Ende dieses Artikels (S. 92) steht, warum die Verfahren für die Opfer so wichtig sind:

"Es reiche ihm, sagt der amerikanische Psychoanalytiker Jack Kerry, wenn Demjanjuk `auch nur für einen Tag in einer Zelle hocken müsste`, Terrry saß als ganz junger Bursche im KZ Flossenbürg, als Demjanjuk dort Wache schob. Und dem Sobibór-Überlebenden Thomas Blatt ist es `egal, ob er ins Gefängnis muss oder nicht, der Prozess ist mir wichtig. Ich will die Wahrheit."

In erster Linie geht es um die kein Ablaufdatum kennende Wahrheit. Daneben besagt der juristische Aspekt, dass Mord und Völkermord nicht verjähren, die nach dem Legalitätsprinzip verfolgt werden, solange die Täter leben. Das moralische Signal an frühere und potentielle Täter lautet: Alter und Krankheit schützen nicht, wer selbst gnadenlos war.

 

Damit der Hinweis von Herrn Rechtsreferendar Til Gut am 12.5.2009 in der Community nicht verloren geht, will ich auch im Rahmen dieses Beitrags im Blog darauf hinweisen, dass Herr Prof. Dr. Cornelius Nestler auf seiner Homepage einen Pressespiegel zum Fall Demjanjuk einstellt.

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