Verhältnis zwischen Gemeinsamer Agrarpolitik und Wettbewerbsrecht am Beispiel der Erzeugerorganisationen -Schlussanträge des Generalanwalts in der Rs C 671/15

von Prof. Dr. Jose Martinez, veröffentlicht am 03.05.2017

Das komplexe Verhältnis zwischen Gemeinsamer Agrarpolitik und Wettbewerbsrecht ist Gegenstand der Schlussanträge des Generalanwalt am EuGH Nils Wahl vom 6. April 2017, Rechtssache C 671/15, Président de l’Autorité de la concurrence gegen Association des producteurs vendeurs d’endives (APVE), u.a . Der zugrundeliegende Fall betrifft horizontale Mengen- und Preisabsprachen von französischen Erzeugerorganisationen bei der Erzeugung und Vermarktung von Chicorée, die sich über 14 Jahre erstreckten. Die französische Wettbewerbsbehörde hatte darin insbesondere einen Verstoß gegen das Kartellverbot nach Art. 101 AEUV gesehen und eine Geldbuße in Höhe von etwa 4 Mio Euro festgesetzt. Hiergegen gingen die Betroffenen vor. Der letztinstanzlich zuständige Cour de Cassation legte dem Europäischen Gerichtshof die Frage zum Verhältnis zwischen der europäischen GAP-Regelung und der Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts vor. Konkret ging es um die Frage, ob neben der in der Gemeinsamen Marktordnung ausdrücklich vorgesehenen allgemeinen Ausnahmen von der Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln auch „spezielle Ausnahmen“ anzuerkennen sind. Diese könnten sich als ungeschriebene Gründe implizit aus den Aufgaben ergeben, die den Erzeugerorganisationen und ihren Vereinigungen durch GAP-Vorschriften übertragen wurden.

Der Generalanwalt ist der Auffassung, dass das Verbot wettbewerbswidriger Kartelle gemäß Art. 101 Abs. 1 AEUV für bestimmte Abstimmungen innerhalb dieser Organisationen, auch wenn sie nicht unter die normierten allgemeinen Ausnahmen fallen, nicht gilt. Ausgangspunkt sei der grundsätzliche Vorrang der GAP vor der Wettbewerbspolitik, wie er durch das Urteil Maizena/Rat (Rs. 139/79) begründet und in der weiteren  Rechtsprechung bestätigt wurde. Nach dem von den Vertragsstaaten gewollten System könne eine Maßnahme also nicht den Wettbewerbsregeln unterliegen, wenn sie für die EO und VEO erforderlich ist, um eine oder mehrere der ihnen übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Dieses wird gestützt auf Art. 175 der Verordnung Nr. 1234/2007, der Nachfolgevorschrift von Art. 1 der Verordnung Nr. 26 und von Art. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1184/2006. Nach dieser Vorschrift gelten die Wettbewerbsregelungen „[v]orbehaltlich anders lautender Bestimmungen dieser Verordnung“. Das gilt u. a. für die GMO-Verordnungen, mit denen bestimmte Aufgaben und bestimmte Arten der Intervention auf den Agrarmärkten geregelt werden. Mit ihnen werden den im Bereich der Erzeugung und Vermarktung von Agrarerzeugnissen tätigen Einheiten, den Erzeugerorganisationen und ihren Vereinigungen bestimmte Aufgaben übertragen, die notwendigerweise bestimmte Formen der Koordination erfordern, die dem Kartellrecht entgegenstehen. Gleichwohl greife das Gebot der engen Auslegung der Ausnahmen von der Anwendung der Wettbewerbsregeln. Daher seien horizontale Absprachen nicht vom Kartellverbot nach Art. 101 Abs. 1 AEUV allein deswegen befreit, weil sie zur Verwirklichung der Ziele der GAP der Stabilisierung der Preise, der Senkung der Produktionskosten oder einer nachfragegerechten Erzeugung dienen.

Entscheidend sei, dass die betreffende Verhaltensweise auf der „richtigen Ebene“ durch die „richtige Einheit“ erfolgt ist, d. h. durch eine Erzeugerorganisation oder ihre Vereinigung, die tatsächlich für die Verwaltung der Erzeugung und die Vermarktung der betreffenden Erzeugnisse verantwortlich ist. Daher seien nur Maßnahmen innerhalb einer Erzeugerorganisation oder ihrer Vereinigung vom Kartellverbot befreit. Zwischen verschiedenen Erzeugerorganisation oder ihrer Vereinigung dürfe es keine geheimen Absprachen über die Preise, die erzeugten Mengen und die Weitergabe sensibler Geschäftsdaten geben. Das gelte auch für Maßnahmen innerhalb der Erzeugerorganisation oder ihrer Vereinigung, die, wie ihre tatsächliche oder mutmaßliche Bezeichnung auch immer sein mag, von ihren Mitgliedern nicht mit der Vermarktung der betreffenden Erzeugnisse betraut worden ist.

Die Schlussanträge liegen in einer Linie mit der bisherigen Rechtsprechung, die aber bislang unvollständig war und durch diesen Fall die Gelegenheit bekommen könnte, bestehende Lücken zu schließen. Insoweit soll die bestehende Rechtslage und Rechtsprechung kurz vergegenwärtigt werden: Das europäische Wettbewerbsrecht, bestehend aus dem Kartell- und dem Beihilferecht, ist Teil des primärrechtlichen Binnenmarkt-Systems des AEUV (Art. 101-109) und muss daher grundsätzlich vom europäischen Gesetzgeber berücksichtigt werden, wenn er die GAP entwickelt Diese Berücksichtigungspflicht wirkt jedoch nicht unmittelbar aus Art. 101ff AEUV , sie ruht vielmehr. Nach Art 42 Abs.1 obliegt es dem Rat und dem Europäischen Parlament, die Vertragsbestimmungen über die Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und den Handel mit diesen ausdrücklich für anwendbar zu erklären und sie damit zu aktivieren. Die Vorschrift stellt klar, dass die nach den Zielen der GAP erforderlichen Sonderregelungen zum Wettbewerbsrecht im Sinne des Art. 38 Abs. 2  den Grundsätzen des Wettbewerbsrechts vorgehen.

Der Rat und das Parlament haben aber nicht das Recht, diese Bestimmungen vollständig für unanwendbar zu erklären. Art. 42 stellt vielmehr klar, dass die Wettbewerbsregeln des Vertrages (also die kartellrechtlichen Wettbewerbsvorschriften der Art. 101 ff. und die Beihilfevorschriften der Art. 107 ff.) grundsätzlich gelten, jedoch unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Agrarwirtschaft. Also nicht die Frage, ob das Wettbewerbsrecht greift, unterliegt der Entscheidungsprärogative des Rates und des Parlaments, sondern allein die Entscheidung, wie und wie schnell es auf die Landwirtschaft angewandt wird.

Die differenzierte Bewertung durch den Generalanwalt ist daher zu begrüßen. Kartellrechtlichen Freistellungen durch die Gemeinsame Marktordnungsregelungen sind möglich, jedoch müssen sie 1. ausdrücklich vom europäischen Gesetzgeber als Ausnahmevorschriften erlassen worden sein und sie müssen 2. als solche auch eng ausgelegt werden. Nur so ist eine konsistente Integration des Wettbewerbsrechts und der GAP möglich. Es bleibt daher zu hoffen, dass sich der Gerichtshof den Schlußanträgen anschließt.

Zum Nachlesen:

Schlussanträge des Generalanwalts Nils Wahl zur Rechtssache vom 6. April 2017, Rechtssache C 671/15

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