Sicherungsverwahrung bei Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge?

von Dr. Jörn Patzak, veröffentlicht am 07.01.2022

Im Verfahren mit dem Aktenzeichen 5 StR 161/21 geht es um die Frage, ob ein erheblich vorbestrafter Angeklagter, der wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt wird, in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann.

Der Angeklagte wurde wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Anstiftung zur Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt. Bei den Taten ging es jeweils um Mengen zwischen 400 und 1.000 Gramm Methamphetamin.  

Das Landgericht hat für die Taten auf Einzelstrafen zwischen drei Jahren und neun Monaten und fünf Jahren Freiheitsstrafe erkannt. Die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung hat es abgelehnt, obwohl der Angeklagte bereits vielfach vorbestraft war. 1997 wurde er wegen versuchter räuberischer Erpressung und räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, 1999 wegen Mordes in drei Fällen zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Die Reststrafe der lebenslangen Freiheitsstrafe wurde im Dezember 2013 zur Bewährung ausgesetzt. 2015 folgte eine Verurteilung wegen bewaffneter Einfuhr und des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten. Hierauf erfolgte im Juni 2016 der Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten lebenslangen Freiheitsstrafe. Die Vollstreckung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe und der Freiheitsstrafe aus dem letztgenannten Urteil wurde 2017 erneut zur Bewährung ausgesetzt. Die Taten im vorliegenden Verfahren beging der Angeklagte dann zwischen Mitte 2018 und Anfang 2019.

Das Landgericht bejahte das Vorliegen eines Hangs zu Straftaten „nach Art der hier abgeurteilten Taten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge“, verneinte jedoch, dass sich der Hang auf erhebliche Taten im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB beziehe. Zwar kämen auch derartige Betäubungsmitteldelikte grundsätzlich als erhebliche Straftaten für die Anordnung der Sicherungsverwahrung in Betracht. Im Rahmen der Gesamtwürdigung sei aber „neben weiteren Kriterien zur Bestimmung der Erheblichkeit, wie das Maß des begangenen Unrechts namentlich auch eine schwere seelische oder körperliche Schädigung der Opfer in den Blick zu nehmen“. Schwere, die Taten des Angeklagten zwischen 1994 und 1996 kennzeichnende Gewaltkriminalität sei vereinzelt geblieben. … Auch wenn Bilddateien aus der Auswertung des Smartphones des Angeklagten, die ihn beim Gebrauch von Schuss- und Stichwaffen zeigten, seine deutliche Waffenaffinität belegten, sei ein Waffeneinsatz ab 2013 nicht feststellbar, wenngleich seine fortbestehende Bindung zum kriminellen Milieu deutlich werde. Das Landgericht sah eine „abnehmende Deliktsschwere sowie eine Verlagerung von anfänglicher Gewaltkriminalität hin zur auf Gewinnerzielung ausgerichteten Betäubungsmittelkriminalität“, „die nicht mehr mit einer aggressiven Durchsetzungsbereitschaft“ einhergehe. Auch seien die Betäubungsmittelgeschäfte „mehr oder weniger innerhalb seines kriminellen Freundeskreises“ abgewickelt worden. Letztlich liege ohne das Hinzutreten besonderer Umstände in der zu erwartenden Betäubungsmitteldelinquenz kein so hohes Maß an Unrecht, dass die Sicherungsverwahrung anzuordnen sei.

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob der 5. Strafsenat des BGH das Urteil mit folgender Begründung auf und verwies es an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück (BGH Urt. v. 30.9.2021 – 5 StR 161/21, BeckRS 2021, 40413):

„Die Begründung, mit der das Landgericht die Gefährlichkeit des Angeklagten infolge eines Hangs zu erheblichen Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB verneint hat, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Erhebliche Straftaten nach dieser Vorschrift sind solche, die den Rechtsfrieden empfindlich stören (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 25. April 2019 - 4 StR 478/18, NStZ 2020, 84, 85; vom 26. April 2017 - 5 StR 572/16 jeweils mwN). Kriterien in diesem Sinne ergeben sich zunächst aus den gesetzgeberischen Wertungen, die maßgeblich für die Normierung der formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung geworden sind (vgl. BGH, Urteile vom 25. April 2019 - 4 StR 478/18, NStZ 2020, 84, 85; vom 27. Juli 2017 - 3 StR 196/17; vom 28. November 2002 - 5 StR 334/02, NStZ-RR 2003, 73, 74). Als erhebliche Straftaten kommen danach vornehmlich solche in Betracht, die in den Deliktskatalog von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a bis c StGB fallen und die - wie Vorverurteilungen im Sinne von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB - im konkreten Fall mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu ahnden wären, ohne dass letzteres allein zur Annahme der Erheblichkeit ausreicht (BGH, Urteile vom 27. Juli 2017 - 3 StR 196/17; vom 28. November 2002 - 5 StR 334/02, NStZ-RR 2003, 73, 74; LK/Rissing-van Saan/Peglau, 12. Aufl., § 66 Rn. 154; Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 66 Rn. 33).

Die Hervorhebung von zu erwartenden schweren seelischen oder körperlichen Schäden künftiger Opfer in § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB stellt einen weiteren entscheidenden Maßstab zur Bestimmung der Erheblichkeit dar, wobei das Gesetz durch die Verwendung des Wortes „namentlich“ zum Ausdruck bringt, dass mit der Nennung solcher Folgen keine abschließende Festlegung verbunden ist; vielmehr sollen damit lediglich Straftaten von geringerem Schweregrad ausgeschieden werden (BGH, Urteile vom 27. Juli 2017 - 3 StR 196/17; vom 18. Mai 1971 - 4 StR 100/71, BGHSt 24, 153, 154 f.; vom 17. Dezember 1985 - 1 StR 539/85, NStZ 1986, 165; vom 9. Oktober 2001 - 5 StR 360/01, NStZ-RR 2002, 38; Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 66 Rn. 33).

Bei der Beurteilung, ob die von dem Angeklagten hangbedingt zu erwartenden Taten in diesem Sinne „erheblich“ sind, kommt es danach auf die Umstände des Einzelfalles an, die im Wege einer sorgfältigen Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten in den Blick zu nehmen sind (BGH, Urteil vom 25. April 2019 - 4 StR 478/18, NStZ 2020, 84, 85 mwN).

b) Nach diesen Grundsätzen erweisen sich die Ausführungen, die das Landgericht seiner Gefährlichkeitsprüfung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB zugrunde gelegt hat, als lückenhaft. Die Delinquenzvorgeschichte und die Feststellung, dass die damit verbundenen Umstände in der Person des Angeklagten unverändert fortbestehen, hätten eine sorgfältige Auseinandersetzung geboten, inwieweit neben „Straftaten nach Art der hier abgeurteilten Taten“ auch solche unter Mitführung und Einsatz von Waffen in Betracht kommen.

Denn das Landgericht hat insbesondere auf Folgendes abgestellt: Die dissoziale Entwicklung des Angeklagten habe im Jahr 1996 zur Ermordung seines Freundes und der Augenzeuginnen geführt und sei Ausdruck eines im Milieu erstrebten Aufstiegs und der damit verbundenen Machtdemonstration gewesen. Diese kriminelle Identität bestehe weiterhin fort. Soweit der Angeklagte zum Ende der ersten Haftzeit regelangepasstes Verhalten gezeigt habe, sei dies allein zweckorientiert gewesen. Nach den Entlassungen 2013 und 2017 habe er jeweils nahtlos an Kontakte aus der Haft oder dem Rotlichtmilieu angeknüpft. Zudem hat die Strafkammer seine fortbestehende Waffenaffinität festgestellt. Es bleibt aber unerörtert, wie sich diese fortbestehenden Risikofaktoren auf die zu erwartende Kriminalität des Angeklagten auswirken. Soweit das Landgericht ihm zugutehält, dass er bei den zur letzten Verurteilung führenden Taten ein anderes Deliktsmuster ohne Gewalt- und Drohelement gezeigt habe, sind keine protektiven Faktoren dargelegt, die eine Begrenzung auf dieses Tatmuster wahrscheinlich machen. ...

c) Da der Hang und die sich infolgedessen ergebende Gefährlichkeit des Angeklagten angesichts dieser Erörterungsdefizite durchgreifend rechtsfehlerhaft beschrieben sind, kann der Senat offenlassen, ob bereits Betäubungsmitteldelikte der vom Angeklagten zuletzt begangenen Art grundsätzlich als erhebliche Taten im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB genügen würden. Im Falle des drohenden Einsatzes von Waffen im Rahmen des Handeltreibens eines wegen schwerer Gewaltdelikte vorbestraften Angeklagten kommt die Annahme erheblicher Straftaten jedenfalls in Betracht.

Dem Ergebnis steht Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht entgegen. Zwar hat der 2. Strafsenat (Urteil vom 7. Juli 2011 - 2 StR 184/11, NStZ 2012, 32) entschieden, dass das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, auch in nicht geringer Menge, als Prognosetat für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht ausreiche (ebenso Fischer, StGB, 68. Aufl., § 66 Rn. 61; Körner/Patzak/Volkmer/Fabricius, 9. Aufl., BtMG § 35 Rn. 580). Diese Entscheidung hatte indes kein prognostiziertes bewaffnetes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zum Gegenstand. Zudem bezog sie sich auf den Rechtszustand nach Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Regelungen zur Sicherungsverwahrung durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08 u.a., BVerfGE 128, 326). Nach der von diesem getroffenen Weitergeltungsanordnung durfte § 66 StGB nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung weiter angewandt werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz war dabei in der Regel nur unter der Voraussetzung gewahrt, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten war (BVerfG aaO, 406, Rn. 172; BGH, Urteil vom 23. April 2013 - 5 StR 610/12, NStZ 2013, 522, 523 mwN).

Diese erhöhten Anforderungen finden auf den vorliegenden Fall keine Anwendung, weil die Taten nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5. Dezember 2012 (BGBl. I 2425) am 1. Juni 2013 begangen wurden (vgl. BGH, Urteil vom 26. April 2017 - 5 StR 572/16, StraFo 2017, 246 mwN).“

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