BayObLG prüft bei Polizisten in Ruhestand ganz schön sorgfältig....und verhilft ihm zum Führerschein

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 12.09.2024
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht1|916 Aufrufe

Tja - der Angeklagte gerierte sich als Dorfsheriff und Verkehrserzieher. Warum? Er ist Polizist im Ruhestand. So bremst er aus Freude andere aus und nennt sie dann noch Wichser. In Bayern zwar nicht ok - das BayObLG hat den Sachverhalt aber so intensiv geprüft, dass es den vom Berufungsgericht angenomenen § 315c StGB verneinen konnte. Das BayObLG hat dann auch noch intensiv die Meinungsfreiheit geprüft bei dem Wort "Wichser". Ob sie das auch getan hätten, wenn ein Letzte-Generation-Mitglied einen Polizisten so tituliert hätte? Ganz sicher!

Ergebnis der Prüfung: Ja, es war ja eine Beleidigung und ja, Ausbremsen ist auch strafbar. Nennt sich dann § 240 StGB, nicht aber 315b StGB oder § 315c StGB. So musste dem Polizisten in Ruhestand nicht die Fahrerlaubnis entzogen werden. Nettes BayObLG.

 

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 22. Februar 2024 a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der Nötigung und der Beleidigung schuldig ist,

 b) im Ausspruch über die im Fall 1 verhängte Einzelstrafe, über die Maßregel und über die Gesamtgeldstrafe nebst Bewilligung der Ratenzahlung aufgehoben; jedoch werden die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten,

 c) im Ausspruch über die wegen Beleidigung verhängte Geldstrafe von 40 Tagessätzen mit der Tagessatzhöhe von 60.- Euro ergänzt.

 Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

 2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

 Gründe: 

 I.

 Das Amtsgericht Neustadt a.d.Aisch hatte den Angeklagten am 13. März 2023 wegen Nötigung und Beleidigung zu einer Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 60.- Euro verurteilt, Ratenzahlung bewilligt und ein Fahrverbot für die Dauer von 3 Monaten ausgesprochen. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht Nürnberg-Fürth mit Urteil vom 22. Februar 2024 das erstinstanzliche Urteil abgeändert und den Angeklagten wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und Beleidigung zu einer Gesamtgeldstrafe von 105 Tagessätzen zu je 60.- Euro unter Bewilligung einer Ratenzahlung verurteilt. Desweiteren hat das Berufungsgericht die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen entzogen und eine Sperre für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis von 9 Monaten angeordnet. Die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht als unbegründet verworfen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten mit der ausgeführten Sachrüge. Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt, die Revision als unbegründet zu verwerfen.

 II.

 Die Revision ist zulässig und hat im ausgesprochenen Umfang Erfolg.

 1. Die Berufungskammer hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

 Am 16. Dezember 2021 gegen 15.00 Uhr fuhr der Angeklagte, ein mittlerweile pensionierter Polizeibeamter, als Führer eines PKWs auf der Bundesstraße B 8 zwischen Diebach und Neustadt a.d.Aisch. Vor dem Angeklagten war der Geschädigte mit einem etwa 16,5 m langen LKW mit Auflieger in gleicher Fahrtrichtung mit einer Geschwindigkeit von etwa 68 km/h unterwegs. Die zulässige Geschwindigkeit betrug für den Geschädigten 60 km/h. Der Angeklagte überholte den Geschädigten im Bereich einer langgezogenen Rechtskurve, scherte mit einem Abstand von etwa 16 Metern vor dem Geschädigten ein und bremste anschließend sein Fahrzeug ohne verkehrsbedingten Grund von zunächst 100 km/h bis fast zum Stillstand ab, um den Geschädigten ebenfalls zu einem abrupten Abbremsen zu zwingen und ihn dadurch zu maßregeln. Infolge des Bremsvorgangs aktivierte sich im LKW des Geschädigten noch vor dessen Reaktion das Notbremssystem und brachte den LKW zum Stillstand. Als der Geschädigte den Angeklagten kurz darauf an einer Ampel zur Rede stellte, bezeichnete ihn der Angeklagte mit den Worten „Du Wichser“, um ihn in seiner Ehre zu verletzen.

 2. Mit ihren Angriffen gegen die Beweiswürdigung zeigt die Revision bezüglich der Verurteilung wegen Beleidigung keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf.

 a. Das Landgericht hat die Aussage des Belastungszeugen sachverständig beraten auf deren Plausibilität überprüft, der gebotenen kritischen Würdigung unterzogen und sich sorgfältig mit deren Inhalt und Zustandekommen auseinandergesetzt. Auch die Einlassung des Angeklagten hat die Berufungskammer umfassend gewürdigt. Dass der Angeklagte kurz nach dem Überholvorgang sein eigenes Fahrzeug verzögerte, der Geschädigte ihn danach an einer Ampel zur Rede stellte und der Angeklagte den Vorfall notierte, hat er eingeräumt. Die Tatrichterin durfte mit Blick auf die im Urteil wiedergegebenen gutachterlichen Ausführungen zum Ergebnis kommen, dass den Angaben des Zeugen zu folgen war. Eine zulässige Aufklärungsrüge hat der Angeklagte nicht erhoben.

 b. Der von der Revision besorgte Verstoß gegen Erfahrungssätze liegt nicht vor. Das Gericht hat das Fertigen von Notizen lediglich als ein gegen die Einlassung des Angeklagten sprechendes Indiz herangezogen. Die daraus hergeleitete Folgerung ist möglich, zwingend muss sie nicht sein.

 c. Der Vortrag des Angeklagten, das Eingreifen des Notbremsassistenten hätte nicht nachgewiesen werden können, beschränkt sich auf seine eigene, ihm nach § 261 StPO nicht zustehende Würdigung der Beweise. Einen Rechtsfehler zeigt die Revision insoweit nicht auf.

 3. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen die Verurteilung wegen Beleidigung. Zwar fehlen im angefochtenen Urteil rechtliche Ausführungen zu § 185 und § 193 StGB sowie zu Art. 5 GG. Der Senat kann diese jedoch nachholen.

 a. Nach gefestigter verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung erfordert das Grundrecht der Meinungsfreiheit als Voraussetzung einer strafgerichtlichen Verurteilung nach § 185 StGB regelmäßig auf der Grundlage der konkreten Umstände einer Äußerung und ihrer Bedeutung eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen. Nur in Ausnahmefällen tritt bei herabsetzenden Äußerungen, die die Menschenwürde eines anderen antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungsfreiheit hinter den Ehrenschutz zurück, ohne dass es einer Einzelfallabwägung bedarf (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Juni 2023 – 203 StRR 204/23 –, juris Rn. 13; BVerfG, Beschluss vom 19.Mai 2020 – 1 BvR 2397/19-, juris Rn. 17).

 b. Der Senat tendiert dazu, dass es sich bei der Bezeichnung „Wichser“ um eine Formalbeleidigung handelt (vgl. auch BayObLG, Beschluss vom 15. August 2023 – 204 StRR 292/23 –, juris insb. Rn. 34 ff.). Der Senat kann jedenfalls eine vom Tatgericht unterlassene Abwägung der Rechtsgüter der Meinungsfreiheit und des Ehrenschutzes nachholen und auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts die gebotene wertende Gegenüberstellung der konkreten Umstände selbst vornehmen, da sich den Urteilsgründen die Situation und die Motivation des Angeklagten hinreichend entnehmen lassen (zur Nachholung vgl. Senat a.a.O. Rn. 15 m.w.N.). Zu den hierbei zu berücksichtigenden Umständen können Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten gehören (siehe näher dazu BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 1094/19 –, juris Rn. 21 ff.). In die Abwägung ist einzustellen, ob die Privatsphäre des Betroffenen oder sein öffentliches Wirken Gegenstand der Äußerung ist und welche Rückwirkungen auf die persönliche Integrität des Betroffenen von einer Äußerung ausgehen können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. April 1999 – 1 BvR 2126/93 –, juris Rn. 31; BVerfG, Beschlüsse vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 1094/19 –, juris Rn. 23, und vom 16. Oktober 2020 – 1 BvR 1024/19 –, juris Rn. 18).

 c) Der Senat ist zu der Entscheidung gelangt, dass im vorliegenden Fall dem Schutz der personalen Würde des Geschädigten der Vorrang gegenüber der Meinungsfreiheit des Angeklagten gebührt und dass der Schuldspruch wegen Beleidigung im Ergebnis zu Recht erfolgt ist. Der Senat hat bei der Abwägung berücksichtigt, dass die Äußerung spontan, als Reaktion auf den Begriff „Sheriff“ oder „Dorfsheriff“ und in einer für den Angeklagten unangenehmen Situation einer Zurechtweisung im Straßenverkehr erfolgte. Weitere Zuhörer waren nicht zugegen. Andererseits ist zu bedenken, dass der Ehrenschutz auch in Konfliktsituationen im Straßenverkehr Geltung beansprucht und nicht jede Beschimpfung erlaubt ist. Im Rahmen der Abwägung fällt besonders ins Gewicht, dass der Angeklagte die Ansprache selbst veranlasst hatte, indem er zuvor den Geschädigten mittels eines nicht ungefährlichen Bremsmanövers maßregelte und anschließend, ohne sich als Polizeibeamter um die möglichen Folgen der Vollbremsung des Geschädigten zu kümmern, davon fuhr. Die Gewichtung dieser festgestellten Umstände ergibt, dass das Recht des Angeklagten, der sich vor der verfahrensrelevanten Äußerung zudem als Polizeibeamter zu erkennen gegeben hatte, auf freie Meinungsäußerung hinter dem personalen Achtungsanspruch des Geschädigten zurücktritt und dem Schuldspruch keine rechtlichen Bedenken entgegen stehen.

 d. Der Einwand der Revision zu § 199 StGB versagt. Ein Rechtsanspruch auf eine Einstellung des Verfahrens ist aus der Vorschrift nicht ableitbar.

 4. Die Feststellungen tragen nicht eine Verurteilung wegen einer Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c StGB.

 a. In Betracht kommt alleine die Alternative des falschen Überholens. Nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB wird bestraft, wer im Straßenverkehr grob verkehrswidrig und rücksichtslos falsch überholt und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet. Überholen im Sinne der Strafvorschrift des § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB meint das Vorbeifahren von hinten an sich in derselben Richtung bewegenden oder verkehrsbedingt haltenden Fahrzeugen auf derselben Fahrbahn oder unter Benutzung von Flächen, die mit der Fahrbahn nach den örtlichen Gegebenheiten einen einheitlichen Straßenraum bilden (BGH, Beschluss vom 15. März 2018 – 4 StR 469/17 –, juris Rn. 8; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl., § 5 StVO Rn. 16 m.w.N.; Jahnke in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., § 5 StVO Rn. 19 m.w.N; Kudlich in BeckOK StGB, 61. Ed. 1.5.2024, StGB § 315c Rn. 42; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315c Rn. 6).

 Ein falsches Fahren beim Überholen ist gegeben, wenn der Täter eine der in § 5 StVO normierten Regeln verletzt oder einen anderweitigen Verkehrsverstoß begeht, der das Überholen als solches gefährlicher macht, sodass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Verkehrsverstoß und der spezifischen Gefahrenlage des Überholens besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2018 – 4 StR 469/17 –, juris Rn. 8; BGH, Beschluss vom 22. November 2016 – 4 StR 501/16-, juris Rn. 6; OLG Düsseldorf, Urteil vom 28. Juli 1981 – 2 Ss 433/81 – 204/81 II –, juris; Fischer a.a.O. § 315c Rn. 6; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. StGB § 315c Rn. 11; Kudlich a.a.O. § 315c Rn. 43; König in Leipziger Kommentar (LK) zum StGB, 13. Aufl., § 315c StGB Rn. 96, 99; Heger in Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl., § 315c Rn. 14; Hecker in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 315c Rn. 18).

 Der Überholvorgang beginnt in der Regel mit dem Ausscheren (Pegel in MüKoStGB, 4. Aufl., § 315c Rn. 53; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. StVO § 5 Rn. 22). Der Überholvorgang ist beendet, wenn das überholende Fahrzeug wieder mit ausreichendem Abstand in den Verkehrsfluss eingegliedert ist (KG, Beschluss vom 28. Juni 2005 – 12 U 62/05 BeckRS 2007, 946; OLG Hamm, Urteil vom 13. Dezember 1999 – 13 U 111/99 BeckRS 2007, 1124; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. § 5 StVO Rn. 23 m.w.N., Rn. 51; Schäfer in BeckOK StVR, 23. Ed. 15.4.2024, StVO § 5 Rn. 67; Jahnke a.a.O. § 5 StVO Rn. 34, 122; Bender in MüKoStVR, 1. Aufl. 2016, StVO § 5 Rn. 10; Gutt/Krenberger, ZfSch 2016, 664 zitiert nach juris; Helle in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 5 StVO (Stand: 09.06.2023) Rn. 83; ähnlich (wenn der Überholte seine Fahrt ungehindert und ungefährdet fortsetzen kann) OLG Hamm, Beschluss vom 11. September 2014 – III-4 RVs 111/14 –, juris Rn. 13; OLG Düsseldorf, Urteil vom 13. Juni 1988 – 5 Ss 101/88 – 99/88 I –, juris Rn. 21; Hecker a.a.O. § 315c Rn. 17; König in LK a.a.O. § 315c Rn. 95; Bollacher in BeckOK StVR, 23. Ed. 15.4.2024, StGB § 315c Rn. 49; nur auf das Eingliedern abstellend BGH, Beschluss vom 28. September 2011 – 4 StR 420/11 –, juris; Pegel a.a.O. § 315c Rn. 54). Das Gebot zur Einhaltung eines ausreichenden Abstandes beim Wiedereinordnen zum überholten Fahrzeug ergibt sich aus § 5 Abs. 4 Satz 6 StVO. Der Überholte darf beim Einscheren in die Spur des Überholten nicht behindert und nicht gefährdet werden. Daher fallen Pflichtverstöße beim Einordnen etwa durch Schneiden, Kreuzen oder Abbremsen beim Einscheren unter § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB, da der innere Zusammenhang mit der besonderen Gefährlichkeit des Überholvorgangs in diesen Fällen bejaht werden kann (OLG Hamm, Beschluss vom 11. September 2014 – III-4 RVs 111/14 –, juris Rn. 13; OLG Düsseldorf, Urteil vom 13. Juni 1988 – 5 Ss 101/88 – 99/88 I –, juris Rn. 21; König in LK a.a.O. § 315c Rn. 95, 97a; Hecker a.a.O. § 315c Rn. 17, 18; Zieschang in NK-StGB, 6. Aufl. 2023, StGB § 315c Rn. 43; Fischer a.a.O. § 315c Rn. 6, 6a; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. StGB § 315c Rn. 12; Niehaus in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke a.a.O. StGB § 315c Rn. 14 f.; Kudlich a.a.O. § 315c Rn. 44.1; zum Schneiden beim Wiedereinscheren BayObLG, Urteil vom 22. August 1986 BeckRS 1986, 112570; Jahnke a.a.O. § 5 StVO Rn. 123).

 Demgegenüber wird Fehlverhalten nach Abschluss des Überholens nicht von § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB erfasst (BGH, Beschluss vom 28. September 2011 – 4 StR 420/11 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 11. September 2014 a.a.O. Rn. 13; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. November 1996 – 1 Ss 154/96 –, juris Rn. 3; im Erg. auch BGH, Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94 –, juris Rn. 20, 21; Heger a.a.O. § 315c Rn. 14; Pegel a.a.O. § 315c Rn. 54; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. § 315c Rn. 13; Niehaus a.a.O. § 315c Rn. 14; Bollacher a.a.O. § 315c Rn. 49; König in LK a.a.O. § 315c Rn. 95; Hecker a.a.O. Rn. 17). Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Norm, da sie nur falsches Überholen, nicht aber sonstiges Behindern erfasst. Nutzt der Überholende nicht die spezifische Überholsituation aus, sondern nimmt den verkehrsfeindlichen Eingriff lediglich bei Gelegenheit des Überholvorgangs vor, indem er sein Fahrzeug nach dem Einscheren zur Disziplinierung oder zu „Strafzwecken“ scharf abbremst, fehlt es an der besonderen Gefährlichkeit des Überholens; ein solcher Vorgang ist an § 315b StGB und an § 240 StGB zu messen (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94 –, juris Rn. 20, 21; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. November 1996 – 1 Ss 154/96 –, juris; so auch König in LK a.a.O. § 315c Rn. 95; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. § 315c Rn. 13).

 Ob ein bewusst scharfes Abbremsen unter Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO, das wie hier in einem engen zeitlichen und situativen Zusammenhang mit dem Wiedereinscheren in die Fahrspur des Überholten erfolgt, vom Begriff des falschen Überholens im Sinne von § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB noch oder nicht mehr erfasst ist, beurteilt sich danach, ob der Überholer vor dem zu betrachtenden Bremsmanöver zunächst auf die Fahrspur des Überholten mit so ausreichendem Abstand (vgl. dazu Jahnke a.a.O. § 5 StVO Rn. 122, 123) zum überholten Fahrzeug eingeschert ist, dass er den Überholten unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen gefahrenen Geschwindigkeiten (vgl. Jahnke a.a.O.) nicht behinderte (OLG Hamm, Beschluss vom 11. September 2014 a.a.O. Rn. 13; im Erg. auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 13. Juni 1988 – 5 Ss 101/88 – 99/88 I –, juris Rn. 21).

 b. Nach diesen Vorgaben ist der Tatbestand der Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB hier nicht erfüllt. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Überholvorgang sei nach dem Einscheren des Angeklagten deshalb noch nicht abgeschlossen gewesen, weil der Überholte aufgrund des Bremsmanövers seine Fahrt nicht ungehindert und ungefährdet fortsetzen konnte, lässt einen Zirkelschluss besorgen. Nach den gutachterlich gestützten Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte mit einer im Vergleich zum Geschädigten deutlich höheren Geschwindigkeit von ca 100 km/h in einem zunächst ausreichenden Abstand (Urteil S. 9) von etwa einer LKW-Länge vor dem mit einer Geschwindigkeit von 68 km/h fahrenden LKW des Geschädigten eingeschert, bevor er sein Bremsmanöver einleitete. Der Überholvorgang war somit vor dem Ausbremsen abgeschlossen. Es kommt daher nicht mehr darauf an, dass nach obergerichtlicher Rechtsprechung Bedenken bestehen, eine Straßenverkehrsgefährdung zu bejahen, wenn die bestimmungsgemäße Funktion eines Fahrassistenzsystems dazu führt, dass sich eine in einem Kausalverlauf angelegte Gefahr gerade nicht in einem entsprechenden Schadenseintritt realisiert (OLG Koblenz, Beschluss vom 26. Juni 2023 – 2 ORs 4 Ss 88/23 –, juris).

 5. Eine Strafbarkeit nach § 315b StGB scheidet ebenfalls aus. Bei einem verkehrsfeindlichen Inneneingriff verlangt die höchstrichterliche Rechtsprechung im Sinne einer einschränkenden Auslegung seit der Entscheidung vom 20. Februar 2003 (BGH, Urteil vom 20. Februar 2003 – 4 StR 228/02 –, BGHSt 48, 233-23), dass der Täter das Fahrzeug mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz als Waffe oder Schadenswerkzeug einsetzt (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Beschluss vom 6. Juni 2023 – 4 StR 70/23 –, juris; Fischer a.a.O. § 315b Rn. 9a, 20, 21; Kudlich a.a.O. § 315b Rn. 18; Pegel a.a.O. § 315b Rn. 18; Hecker a.a.O. § 315b Rn. 10). Die Feststellungen des Landgerichts belegen keinen bedingten Schädigungsvorsatz des Angeklagten. Die Strafkammer hat bei dem die Umstände des Bremsvorgangs bestreitenden Angeklagten den Schluss auf das Vorliegen eines bedingten Schädigungsvorsatzes allein aus dem objektiven Hergang geschlossen, sich jedoch für die gebotene Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit und zum Gefährdungsvorsatz nicht mit der Frage beschäftigt, ob der Angeklagte mit dem Eingreifen eines Notbremsassistenten rechnete. Auch eine mögliche Eigengefährdung des Angeklagten im Falle eines Auffahrunfalls hätte es bei seinen Überlegungen zum bedingten Schädigungsvorsatz mit einstellen müssen (vgl. zum Aspekt der Schutzlosigkeit BGH, Urteil vom 31. August 1995 – 4 StR 283/95 –, BGHSt 41, 231-242, zitiert nach juris Rn. 19; Fischer a.a.O. § 315b Rn. 20).

 6. Der Angeklagte hat sich jedoch – neben der Beleidigung – wegen einer vollendeten Nötigung nach § 240 StGB strafbar gemacht.

 a. Nach der gefestigten Rechtsprechung setzt Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB eine körperlich vermittelte Zwangswirkung zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands voraus (vgl. Fischer a.a.O. § 240 Rn. 8). Dazu kann auch ein geringer körperlicher Aufwand genügen, wenn seine Auswirkungen sich physisch wirkend als körperlicher Zwang darstellen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juli 1995 ‒ 1 StR 126/95- juris Rn. 14; Fischer a.a.O. § 240 Rn. 19). Strafbare Nötigung durch Gewalt kann demnach vorliegen, wenn der Einfluss auf das Opfer bei nur geringem körperlichen Aufwand dergestalt physischer Art ist, dass die beabsichtigte Fortbewegung durch tatsächlich nicht überwindbare Hindernisse unterbunden wird (vgl. BGH a.a.O. Rn. 16; Fischer a.a.O. Rn. 17). Der Verurteilung wegen Nötigung steht nicht entgegen, dass der Angeklagte ohne einen unmittelbaren Kontakt auf den geschädigten Kraftfahrer eingewirkt hat. Der angestrebte Erfolg kann auch dadurch erreicht werden, dass sich der Täter einer Sache bedient, um dem zu Nötigenden ein physisches Hindernis zu bereiten. Auf welche Weise er das tut, spielt im Verhältnis zu dem in der Fortbewegung gehemmten Adressaten keine Rolle. Ausschlaggebend ist allein die vom Täter bezweckte physische Wirkung auf den nachfolgenden Verkehrsteilnehmer (BGH a.a.O. Rn. 17; Fischer a.a.O. Rn. 17).

 b. Bremst ein Fahrzeugführer sein eigenes Fahrzeug bewusst aus verkehrsfremden Gründen stark ab, um den hinter ihm fahrenden Fahrer ohne Ausweichmöglichkeit zu einer Vollbremsung, insbesondere zum Stillstand, zu zwingen, ist der Tatbestand der Nötigung in der Gewaltalternative erfüllt (BGH, Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94 –, juris Rn. 20, 21; BayObLG, Urteil vom 6. Juli 2001 – 1St RR 57/01 –, juris; Fischer a.a.O. § 240 Rn. 27, 28 m.w.N.; Valerius in BeckOK StGB 61. Ed. § 240 Rn. 29.3; Sinn in MüKoStGB a.a.O. § 240 Rn. 148; Eisele in Schönke/Schröder a.a.O. § 240 Rn. 24 m.w.N.; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. StGB § 240 Rn. 21). Dass das Fahrzeug des Geschädigten hier mit einem automatischen Bremssystem ausgestattet war und nicht der Fahrer, sondern das System eine elektronische Vollbremsung einleitete, schließt weder den objektiven Tatbestand noch den Vorsatz aus. Der Gewaltbegriff des § 240 StGB erfasst auch Einwirkungen auf die Umwelt des Opfers, wenn sie dessen Handlungsmöglichkeiten beschränken und gerade zu diesem Zweck vorgenommen werden (Altvater/Coen in LK a.a.O. § 240 Rn. 63; Fischer a.a.O. § 240 Rn. 27; Eisele a.a.O. § 240 Rn. 34).

 7. Der Senat ändert den Schuldspruch in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO ab. Er schließt aus, dass in einer neuen Verhandlung Feststellungen getroffen werden können, die eine Verurteilung nach § 315b StGB, gegebenenfalls auch nach §§ 223, 22 StGB tragen würden. § 265 StPO steht dem nicht entgegen. Der Angeklagte war in erster Instanz wegen Nötigung verurteilt worden. Auf der Rechtsfolgenseite kann der Ausspruch über die wegen des Verkehrsdelikts verhängte Einzelstrafe, über die Maßregel der Besserung und Sicherung und über die Gesamtstrafe keinen Bestand haben. Mit der Aufhebung der Gesamtgeldstrafe gerät auch die Bewilligung der Ratenzahlung in Wegfall. Das Verbot der reformatio in peius steht einer zukünftigen Versagung einer Ratenzahlung nicht entgegen, wenn die Voraussetzungen von § 459a Abs. 2 S. 2 StPO vorliegen (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 5. Februar 2021 – (3) 121 Ss 189/20 (1/21) –, juris m.w.N. in Rn. 8). Die Feststellungen können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Neue Feststellungen sind möglich, soweit sie den bisherigen nicht widersprechen. Dass die Strafkammer es unterlassen hat, bei der wegen Beleidigung verhängten Einzelstrafe die nachvollziehbar im Zusammenhang mit der Festsetzung der Gesamtgeldstrafe begründete Tagessatzhöhe von 60.- Euro anzugeben, wertet der Senat als offensichtliches Versehen und berichtigt das Urteil entsprechend. Im übrigen bestehen gegen die Ausführungen zur Strafzumessung in Bezug auf die Beleidigung keine rechtlichen Bedenken. Zwar sind nicht unerhebliche beamtenrechtliche Folgen regelmäßig strafmildernd zu berücksichtigen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 5. Oktober 2023 – 6 StR 299/22 –, juris Rn. 36 m.w.N.). Das Landgericht hat jedoch keine Feststellungen zu konkret drohenden erheblichen dienstrechtlichen Konsequenzen für den Angeklagten getroffen. Solche verstehen sich mit Blick auf das Tatbild, den außerdienstlichen Anlass und den Zeitablauf auch nicht von selbst. Die Voraussetzungen für einen Verlust der Versorgung nach Art. 80 BayBeamtVG oder eine Aberkennung des Ruhegehalts nach Art. 14 Abs. 2 S. 2 Bayerisches Disziplinargesetz (BayDG) liegen ersichtlich nicht vor. Dass der Angeklagte durch eine mögliche Kürzung des Ruhegehalts nach Art. 12 BayDG wirtschaftlich in besonderer Weise betroffen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2006 – 1 StR 541/05-, juris), lässt sich den Feststellungen nicht entnehmen, zumal die Vorschrift von Art. 15 Abs. 1 Nr. 2 BayDG eine Kürzung des Ruhegehalts neben einer Strafe nur eingeschränkt zulässt. Eine den Anforderungen von § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügende Aufklärungsrüge bezüglich der wirtschaftlichen und disziplinarrechtlichen Verhältnisse des Angeklagten hat die Revision auch insoweit nicht erhoben.

 

BayObLG Beschl. v. 22.7.2024 – 203 StRR 287/24, BeckRS 2024, 20920

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Jetzt habe ich das lange Urteil nicht durchgelesen. Aber der Aspekt der charakterlichen Eignung zum Führen eines Kfz sollte dringend im Verwaltungsverfahren geprüft werden. Dann kann der VGH nachholen, was das BayObLG versäumte.

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