EuGH: Zur Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat („Polbud“)

von Ulrike Wollenweber, veröffentlicht am 26.10.2017

Der EuGH hat mit Urteil vom 25. Oktober 2017 (C-106/16, BeckEuRS 2016, 476206) entschieden, dass auch die Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes – ohne gleichzeitige Verlegung des tatsächlichen Sitzes – unter die durch das Unionsrecht geschützte Niederlassungsfreiheit fällt. Nach Auffassung des EuGH dürfen Mitgliedstaaten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen wollen, nicht zur Durchführung eines Liquidationsverfahrens verpflichten (vgl. auch die Pressemitteilung des EuGH vom 25. Oktober 2017).

Im Ergebnis legt der EuGH damit den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49, 54 AEUV weiter aus als dies die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen vom 4. Mai 2017 getan hatte. Zur Begründung führt der EuGH aus, dass nach derzeitigem Unionsrecht die jeweiligen Mitgliedstaaten die maßgebliche Anknüpfung für das auf Gesellschaften anwendbare Recht festlegen. Dabei weist der EuGH auch darauf hin, dass es nach seiner Rechtsprechung keinen Missbrauch darstellt, wenn eine Gesellschaft ihren – satzungsmäßigen oder tatsächlichen – Sitz in einem bestimmten Mitgliedstaat wählt, um in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen.

Demnach kann – wie vorliegend – eine polnische Gesellschaft ohne Verlegung ihres tatsächlichen Sitzes in eine Luxemburger Gesellschaft umgewandelt werden, wenn dies vom luxemburgischen Recht anerkannt wird. Nach Ansicht des EuGH dürfen dabei die vom Herkunftsmitgliedstaat festgesetzten Voraussetzungen für eine solche grenzüberschreitende Umwandlung nicht strenger ausgestaltet sein als die für innerstaatliche Umwandlungen geltenden Rechtsvorschriften.

Das polnische Recht forderte hier für die Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat die Durchführung eines Liquidationsverfahrens (d.h. die Beendigung der laufenden Geschäfte, die Beitreibung der Forderungen, die Erfüllung der Verbindlichkeiten etc.). Eine solche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nur statthaft, wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt und verhältnismäßig ist. Nach Ansicht des EuGH ist die allgemeine Verpflichtung zur Durchführung eines Liquidationsverfahrens, ohne dabei zu berücksichtigen, ob tatsächlich eine Gefahr für Interessen der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter und der Arbeitnehmer besteht, unverhältnismäßig. Somit steht eine solche Regelung der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49, 54 AEUV entgegen.

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1 Kommentar

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Die Entscheidung ist sicher interessant. Sie dürfte auch früheren Entscheidungen insoweit widersprechen, als die Niederlassungsfreiheit auch insoweit eingreift, als im Zuzugstaat keinerlei Aktivität beabsichtigt wird (Cadbury Schweppes liest sich dagegen deutlich anders). Leider hat der EuGH Cadbury Schweppes in dieser Entscheidung nicht gewürdigt. 

Von Daily Mail bleibt wohl nicht mehr viel übrig (das war freilich schon mit National Grid Indus der Fall). Die Frage ist, was noch von Cartesio bleibt. Womöglich ist Cartesio nunmehr begrenzt auf die Fälle, in denen jemand seinen Satzungssitz ins Ausland verlegen will, dennoch aber die inländische Rechtsform beibehalten will (dies dürfte weiterhin nicht von der Niederlassungsfreiheit gedeckt sein, wird aber vernünftigerweise kaum jemals angestrebt werden). 

Insgesamt wünscht man sich vom EuGH etwas mehr methodische Ehrlichkeit, was die Aufhebung/Einschränkung alter Entscheidungen betrifft. Die Generalanwältin beklagte ja die Veröffentlichungsflut zur Niederlassungsfreiheit im Gesellschaftsrecht. Diese ist aber zum großen Teil auf die Entscheidungspraxis des EugH zurückzuführen, welcher nur von Fall zu Fall springt, ohne ein stimmiges Gesamtkonzept zu präsentieren. Auf diese Weise wird es weiterhin zu Vorabentscheidungsverfahren und Stückwerk kommen. 

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