BVerfG: Zeugnisbemerkung über die Nichtbewertung der Rechtschreibleistungen wegen Legasthenie

von Sibylle Schwarz, veröffentlicht am 22.11.2023
Rechtsgebiete: Bildungsrecht2|1687 Aufrufe

Mit heute verkündetem Urteil hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 22. November 2023 - 1 BvR 2577/15, 1 BvR 2578/15, 1 BvR 2579/15) die Verfassungsbeschwerden dreier Abiturienten entschieden. Sie begehren die Entfernung einer Bemerkung über die Nichtbewertung ihrer Rechtschreibleistungen aus ihren im Freistaat Bayern im Jahr 2010 erworbenen Abiturzeugnissen.

 

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführer, drei Abiturienten, bei denen fachärztlich eine Legasthenie festgestellt worden war, bestanden im Jahr 2010 das Abitur in Bayern.

Nach der damaligen Verwaltungspraxis gingen auf Antrag Rechtschreibleistungen nicht beziehungsweise lediglich mit eingeschränktem Gewicht in die Abiturnote ein. Rechtschreibleistungen in Deutsch und teilweise auch in Fremdsprachen wurden nicht benotet.

Auf ihren Antrag hin wurden Prüfungserleichterungen gewährt. Nur für das Fach Deutsch wurde von Bewertungen der Rechtschreibleistungen abgesehen, denn Fremdsprachen hatten die Beschwerdeführer in ihren Abiturprüfungen nicht belegt. In ihren Abiturzeugnissen fand sich die Bemerkung „Auf Grund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie wurden Rechtschreibleistungen nicht bewertet.“

 

Darüber hinaus wurde Schülerinnen und Schülern mit gutachterlich festgestellter Legasthenie wegen der damit verbundenen langsameren Lese- und Schreibgeschwindigkeit bei schriftlichen Leistungsfeststellungen ein Zeitzuschlag bis zur Hälfte der regulären Arbeitszeit gewährt, wobei hierüber keine Bemerkung in das Zeugnis aufzunehmen war.

Weiterhin wurden bei Schülerinnen und Schülern, bei denen Einzelleistungen aus anderen Gründen nicht bewertet wurden, nach der im Jahr 2010 in Bayern praktizierten Verwaltungspraxis keine Zeugnisbemerkungen angebracht.

 

Es geht in den Verfassungsbeschwerden um eine im Jahr 2010 in Bayern geübte Verwaltungspraxis. Der zufolge wurden Zeugnisbemerkungen ausschließlich bei legasthenen Schülern und der Nichtbewertung deren Rechtschreibleistungen hauptsächlich in Deutsch angebracht, nicht jedoch bei Zeitzuschlag sowie nicht bei Schülern mit anderen (etwa mit körperlichen) Behinderungen oder in Konstellationen, in denen Lehrkräfte aufgrund eines ihnen eingeräumten Ermessens von einer Bewertung von Rechtschreibleistungen in bestimmten Fällen absehen konnten.

 

Die Beschwerdeführer sind der Auffassung, dass die den angegriffenen Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts (vom 29. Juli 2015 - BVerwG 6 C 33.14 und 6 C 35.14 - ) zugrundeliegenden Zeugnisbemerkungen insbesondere gegen das Verbot der Benachteiligung behinderter Personen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und das Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG verstoßen.

 

 

Entscheidung des Senats:

Die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Juli 2015 - BVerwG 6 C 33.14 und 6 C 35.14 - verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes und werden aufgehoben.

 

 

Begründetheit:

Legasthenie

Legasthenie ist eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.

Eine Behinderung im verfassungsrechtlichen Sinne liegt vor, wenn eine Person infolge eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder psychischen Zustandes in der Fähigkeit zur individuellen und selbständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist. Geringfügige Beeinträchtigungen sind nicht erfasst, sondern nur Einschränkungen von Gewicht. Auf den Grund der Behinderung kommt es nicht an. Geschützt sind auch chronisch oder psychisch Kranke, wenn sie entsprechend längerfristig und gewichtig beeinträchtigt sind.

Bei einer Legasthenie [Anm.: ICD- 10-GM Version 2023 F81.0 Lese- und Rechtschreibstörung] beruhen die Defizite beim Lesen und Schreiben auf einer medizinisch messbaren neurobiologischen Hirnfunktionsstörung und damit auf einem regelwidrigen körperlichen Zustand. Die Symptome dieser Funktionsstörung, nämlich eine deutliche Verlangsamung des Lesens, Schreibens und Textverständnisses und weit unterdurchschnittliche Rechtschreibfähigkeiten halten längerfristig, regelmäßig sogar lebenslang, an. Die damit verbundenen Einschränkungen einer individuellen und selbstbestimmten Lebensführung sind gewichtig.

Die Defizite beim Lesen und Schreiben beruhen bei der Legasthenie nicht auf Ursachen ohne Krankheitswert wie etwa einer geringen Begabung, fehlenden Lerngelegenheiten oder unzureichenden Sprachkenntnissen, sondern auf einer medizinisch messbaren neurobiologischen Hirnfunktionsstörung.

 

 

Vergleichsgruppen

Legasthene Schülerinnen und Schüler mit Zeugnisbemerkung werden gegenüber Schülerinnen und Schülern ohne Zeugnisbemerkung benachteiligt. Letztere umfassen zunächst Schülerinnen und Schüler, bei denen die Rechtschreibleistungen bewertet werden (Vergleichsgruppe 1).

Sie umfassen weiterhin Schülerinnen und Schüler, bei denen die Rechtschreibleistungen oder sonstige Prüfungsleistungen aus anderen Gründen nicht bewertet werden, aber gleichwohl keine Zeugnisbemerkung erfolgt; dies ist der Fall bei Schülerinnen und Schülern mit anderen bewertungsrelevanten Behinderungen (Vergleichsgruppe 2)

sowie in den Fällen, in denen auf Grundlage des Ermessens der Lehrkräfte von der Bewertung der Rechtschreibleistungen abgesehen wird (Vergleichsgruppe 3)

 

 

Rechtfertigung der Zeugnisbemerkungen

Eine Benachteiligung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt vor, wenn einem Menschen wegen einer Behinderung Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten werden, die anderen offenstehen, soweit dies nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme hinlänglich kompensiert wird.

Die Benachteiligung gegenüber der Vergleichsgruppe 1 [Schülerinnen und Schüler, bei denen die Rechtschreibleistungen bewertet werden] ist gerechtfertigt:

 

Eine Zeugnisbemerkung erfolgt im maßgeblichen Zeitraum nur bei Legasthenikern. Zwar knüpft sie nicht unmittelbar an das Vorliegen einer Legasthenie an. Es geht nicht darum, diese Behinderung nach außen zu dokumentieren. Die Zeugnisbemerkung zielt auch nicht darauf, Schülerinnen und Schüler mit einer Legasthenie von der Ausübung ihrer Rechte auszuschließen. Anknüpfungspunkt ist vielmehr die Nichtbewertung der Rechtschreibleistungen auf Antrag. Es soll transparent gemacht werden, dass diese Leistungen abweichend von den jedenfalls für die Fächer Deutsch und Fremdsprachen verbindlichen allgemeinen Benotungsmaßstäben nicht in das Abiturzeugnis eingeflossen sind.

 

Adressaten des Schulabschlusszeugnisses werden daraus den Schluss ziehen, dass der Zeugnisinhaber insoweit Defizite aufweist, die bei den anderen Prüfungsteilnehmern so nicht vorliegen. Ferner dürfte regelmäßig angenommen werden, dass es sich um einen Legastheniker handelt.

Diese Offenlegung eines vorhandenen Leistungsdefizits und einer Behinderung beeinträchtigt zum einen das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Es umfasst als Recht über die Darstellung der eigenen Person das Recht, selbst über die Offenlegung von Vorgängen und Zuständen aus dem eigenen persönlichen Lebensbereich bestimmen zu können.

In der mündlichen Verhandlung wurde dargelegt, dass aus einer fehlenden orthografischen Kompetenz nicht selten jedenfalls auf eine allgemein unzureichende Schreib- und Sprachkompetenz geschlossen wird.

 

 

Rechtschreibleistungen jedenfalls in den Fächern Deutsch und Fremdsprachen gehören zum Gegenstand der abgelegten Abiturprüfungen im Jahr 2010. Es ist von der Grundentscheidung des Gesetzgebers gedeckt, auch die Beherrschung der Rechtschreibregeln zum Gegenstand des Abiturs zu machen.

Die Bewertung ihrer Rechtschreibleistungen verschlechtert faktisch die Erfolgschancen von legasthenen Schülern in der Prüfung, weil sie infolge ihres behinderungsbedingten Rechtschreibdefizits nicht oder nur sehr eingeschränkt in der Lage sind, die entsprechenden Anforderungen zu erfüllen. Zwar können durch die Bewertung der Rechtschreibleistungen auch Prüfungsteilnehmer mit einer Rechtschreibschwäche ohne Krankheitswert nachteilig betroffen sein. Die Nachteile der Legastheniker unterscheiden sich hiervon aber nicht nur deshalb, weil sie infolge des behinderungsbedingt besonders ausgeprägten Rechtschreibdefizits regelmäßig schwerer wiegen. Sie sind auch ihrer Art nach verschieden, weil sie von vornherein nicht durch Übung, Fleiß und Förderung vermieden werden können und weil eine Diskrepanz zwischen dem individuellen Intelligenzniveau und den legastheniebedingten unzureichenden Rechtschreibleistungen besteht.

 

Wenn aber der Gesetzgeber dem Abitur die allgemeine Hochschulreife beimisst, die als breiter, allgemeiner Qualifikationsnachweis angelegt ist, und das darüber erteilte Zeugnis einen grundsätzlichen Anspruch auf Studienzulassung für alle Fächer vermittelt, kommt der in Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG angelegten leistungsgerechten und chancengleichen Ausgestaltung der Prüfung eine hervorgehobene Bedeutung zu. Dieser wird der Gesetzgeber in besonderem Maße gerecht, wenn alle Prüflinge dieselben schulisch erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unter denselben Voraussetzungen nachweisen müssen und die unterschiedliche Qualität der gezeigten Leistungen durch eine differenzierte Notengebung genau erfasst und in allen Abschlusszeugnissen aussagekräftig und vergleichbar dokumentiert wird.

Denn der Umstand, dass das Abschlusszeugnis eine einheitliche Qualifikation vermittelt, erweckt den Anschein, dass sich alle Prüfungsteilnehmer der Bewertung sämtlicher Kenntnisse und Fähigkeiten unterziehen mussten, die – wie hier die Rechtschreibung − an sich Bestandteil der durch das Zeugnis vermittelten Qualifikation sind. Solche Fehlvorstellungen werden durch einen Vermerk im Zeugnis über die Nichtbewertung vermieden. Dadurch wird die Aussagekraft und Vergleichbarkeit des Zeugnisses erhöht.

(Die Bayerische Staatsregierung weist in ihrer Stellungnahme darauf hin, dass bei fehlender Aussagekraft und Vergleichbarkeit von Schulabschlusszeugnissen Eignungsprüfungen der Ausbildungsstätten und Arbeitgeber an deren Stelle träten, auf die sich dann diejenigen Bewerber am besten vorbereiten könnten, die in der Lage seien, die finanziellen Mittel für die Teilnahme an entsprechenden Kursen aufzubringen.)

 

 

Zu den auf die Herstellung von Chancengleichheit zwischen behinderten und nichtbehinderten Schülern bei der Prüfung zielenden Maßnahmen kann etwa die Zulassung spezieller Arbeitsmittel, die Bereitstellung besonderer Räumlichkeiten oder die Ersetzung mündlicher Prüfungsteile durch schriftliche Ausarbeitungen und umgekehrt gehören. Hiervon zu unterscheiden ist der von den allgemeinen Prüfungsanforderungen abweichende Verzicht auf den Nachweis oder die Benotung von Leistungen wegen behinderungsbedingter Einschränkungen. Dazu gehört die Befreiung von der Teilnahme am Unterricht und der ganze Fächer oder bestimmte Teilleistungen − wie etwa hier die Rechtschreibung als Leistungselement der Fächer Deutsch und Fremdsprachen − betreffende Verzicht auf die Vergabe von Noten oder einer Bewertung.

 

Bemerkungen im Abschlusszeugnis über eine ansonsten nicht erkennbare, nur auf Antrag erfolgte Nichtbewertung prüfungsrelevanter Leistungen sind nicht nur grundsätzlich gerechtfertigt, sondern angesichts der konkreten Ausgestaltung der Abiturprüfung verfassungsrechtlich geboten. Denn nur auf diese Weise kann ein möglichst schonender Ausgleich zwischen dem Auftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG an den Staat, Schulabschlussprüfungen so auszugestalten, dass alle Schulabgänger die gleiche Chance haben, entsprechend ihrer erbrachten schulischen Leistung und ihrer persönlichen Fähigkeiten Zugang zu Ausbildung und Beruf zu finden, und dem nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geschützten Interesse daran hergestellt werden, dass sich behinderungsbedingte Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit bei Schulabschlussprüfungen nicht nachteilig auswirken.

Daher ist die Herstellung von Transparenz über die tatsächlich erbrachten Leistungen zum Schutz eines chancengleichen Zugangs zu Ausbildung und Beruf im Rahmen einer wie hier ausgestalteten Abiturprüfung von solchem Gewicht, dass grundsätzlich Bemerkungen über eine antragsgemäß erfolgte Nichtbewertung von Leistungen im Abiturzeugnis anzubringen sind, zumal den Betroffenen im Regelfall ein Gesamtvorteil verbleibt.

 

 

Rechtfertigung im konkreten Fall

Gleichwohl sind die hier angegriffenen Zeugnisbemerkungen den Beschwerdeführern im Verhältnis zu den Vergleichsgruppen 2 [Rechtschreibleistungen oder sonstige Prüfungsleistungen aus anderen Gründen nicht bewertet werden, keine Zeugnisbemerkung] und 3 [Ermessen der Lehrkräfte von der Bewertung der Rechtschreibleistungen abzusehen] jedenfalls nicht zumutbar.
Denn eine Zeugnisbemerkung ist zur Herstellung von Transparenz nur angemessen, wenn sie die Fälle erheblicher Abweichungen von den Prüfungsmaßstäben hinreichend umfassend einbezieht.

 

Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Abiturprüfung der Beschwerdeführer wurden Zeugnisbemerkungen ausschließlich in den Zeugnissen von Schülerinnen und Schülern mit einer Legasthenie angebracht, die einen Antrag auf Nichtbewertung ihrer Rechtschreibleistungen gestellt hatten. Bei anderen Behinderungen wurde eine Zeugnisbemerkung hingegen weder dann angebracht, wenn deshalb ebenfalls von einer Bewertung der Rechtschreibleistungen abgesehen wurde, noch dann, wenn die Nichtbewertung andere Teilleistungen eines Faches betraf. Zudem ist der allgemeine Verweis auf die Nichtbewertung von Rechtschreibleistungen überschießend, soweit nicht von einem allgemeinen Prüfungsmaßstab abgewichen wurde, weil die Rechtschreibleistungen in einigen Fächern auch bei den anderen Mitschülern wegen eines den Lehrkräften insoweit eingeräumten Ermessens nicht bewertet werden mussten.

Weiterhin stand hier die Bewertung von Rechtschreibleistungen in einigen Fächern − wie etwa in Naturwissenschaften − im Ermessen der jeweiligen Lehrkraft, das nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht für alle Fächer generalisiert ausgeübt wurde; die Rechtschreibleistungen mussten folglich auch bei den Mitschülern nicht generell bewertet werden. Wenn gleichwohl auch insoweit nur in den Zeugnissen legasthener Schüler auf die Nichtbewertung verwiesen wird, bedeutet das eine für die Beschwerdeführer unzumutbare Benachteiligung.

 

Mit der Anbringung von Zeugnisbemerkungen allein bei Schülern mit einer Legasthenie verfehlte die damalige Verwaltungspraxis die verfassungsrechtlichen Vorgaben.

 

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2 Kommentare

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Es ist sehr erschreckend, dass erst heute, am 22. November 2023, ein Urteil zu einem Abiturzeugnis aus dem Jahr 2010 verkündet wird - 13 Jahre später. Das angefochtene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts stammt vom Juli 2015. Karlsruhe hat sich viel zu viel Zeit gelassen.

 

Positiv sehe ich allerdings die ausführliche Auseinandersetzung des Ersten Senats mit der Behinderung Legasthenie. Denn es wird immer von Legasthenie gesprochen und damit auf die Lese- und Rechtschreibstörung nach CD-10-GM Version 2023 F81.0 Bezug genommen. In meiner Arbeit mit Schülerinnen und Schülern und deren Eltern erlebe ich, dass leider gerne „LRS“ genuschelt wird. „LRS.“ Ich frage dann immer nach, ob es sich um „S wie Störung“ oder „S wie Schwäche“ handelt. Das ist ein Riesenunterschied, deshalb höre ich die Abkürzung „LRS“ gar nicht gerne.

 

Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet klar zwischen Legasthenie = Lese- und Rechtschreibstörung und Rechtschreibschwäche ohne Krankheitswert.

„… Zwar können durch die Bewertung der Rechtschreibleistungen auch Prüfungsteilnehmer mit einer Rechtschreibschwäche ohne Krankheitswert nachteilig betroffen sein. Die Nachteile der Legastheniker unterscheiden sich hiervon aber nicht nur deshalb, weil sie infolge des behinderungsbedingt besonders ausgeprägten Rechtschreibdefizits regelmäßig schwerer wiegen. Sie sind auch ihrer Art nach verschieden, weil sie von vornherein nicht durch Übung, Fleiß und Förderung vermieden werden können und weil eine Diskrepanz zwischen dem individuellen Intelligenzniveau und den legastheniebedingten unzureichenden Rechtschreibleistungen besteht. …“

 

Auch diese Ausführungen aus der Feder der Verfassungsrichter können nicht oft genug wiederholt werden:

„… Die Defizite beim Lesen und Schreiben beruhen bei der Legasthenie nicht auf Ursachen ohne Krankheitswert wie etwa einer geringen Begabung, fehlenden Lerngelegenheiten oder unzureichenden Sprachkenntnissen, sondern auf einer medizinisch messbaren neurobiologischen Hirnfunktionsstörung. …“

Zu oft habe ich erlebt, dass gerade Lehrkräfte eine fachärztlich diagnostizierte Legasthenie als mangelnde Intelligenz, Faulheit oder Ungeschicklichkeit abtun. Dieser Irrglaube scheint weit verbreitet zu sein, denn auch der Erste Senat führt aus: „… In der mündlichen Verhandlung wurde dargelegt, dass aus einer fehlenden orthografischen Kompetenz nicht selten jedenfalls auf eine allgemein unzureichende Schreib- und Sprachkompetenz geschlossen wird. …“

 

Hervorzuheben ist auch die Nennung unterschiedlicher Maßnahmen der Förderung. „… Zu den auf die Herstellung von Chancengleichheit zwischen behinderten und nichtbehinderten Schülern bei der Prüfung zielenden Maßnahmen kann etwa die Zulassung spezieller Arbeitsmittel, die Bereitstellung besonderer Räumlichkeiten oder die Ersetzung mündlicher Prüfungsteile durch schriftliche Ausarbeitungen und umgekehrt gehören. …“

Im konkreten Fall eines Legasthenikers beginnt genau hier das Problem. Welche Maßnahme gleicht die Behinderung aus und ermöglicht die gleiche Teilhabe an Prüfungen? Reicht der bereitwillig gewährte Zeitzuschlag aus? Müssen zusätzlich besondere Hilfsmittel gewährt werden? Bevorzugende Maßnahmen sind jedenfalls laut Bundesverfassungsgericht nachrangig. Also leider ein langer Prozess von Versuch und Irrtum.

 

Bedauerlicherweise eine sehr späte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Abitur 2010, die den Abiturienten nicht mehr viel nützen wird. In der 40-seitigen Begründung finden sich aber viele weiterführende Ausführungen, die für von Legasthenie Betroffene hilfreich sein können.

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