Wie das GEAS legale Einreisen politisch Verfolgter verhindert

von Dr. Sylvia Kaufhold, veröffentlicht am 29.12.2023

Nach meinen Beiträgen zur Idee eines elektronischen Asylvisums bzw. generell zur Einführung eines Asyleinreiseverfahrens auch an der Grenze (ZRP 2017, 69; FAZ-Einspruch v. 09.04.2020; zustimmend Papier, die Warnung, S. 77/78) ist jetzt mein neuer Aufsatz zum europäischen Asylrecht erschienen (NJOZ 2023, 1568). Eine Kurzfassung wurde vorab im FAZ-Einspruch v. 07.12.2023 veröffentlicht. Die wesentlichen Aussagen, die ich hier gerne zur Debatte stelle, sind: 

1. Abschiebungen scheitern vor allem an verschleierten Identitäten und der extensiven, von vielen sogar als ultra vires kritisierten Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK. Art. 3 EMRK verbietet zwar eigentlich „nur“ Folter und unmenschliche Behandlung in einem Vertragsstaat. Der EGMR wendet Art. 3 EMRK aber auch zugunsten von Personen an, denen bei einer Abschiebung aus einem Vertragsstaat erst in ihrem Heimatland schwerer Schaden (insbes. aufgrund Krieges, Krankheit oder Armut) drohen könnte. Ausnahmen selbst für Straftäter und Gefährder sind anders als nach Art. 33 GFK nicht vorgesehen, das sogen. menschenrechtliche Refoulementverbot soll absolut gelten.

2. Dieses absolute Refoulementverbot wirkt wie ein Magnet gerade auf Menschen, denen im Heimatland offensichtlich keine politische Verfolgung im engeren Sinne der GFK und des Art. 16a GG droht und die diesen Umstand durch Vernichtung ihrer Ausweisdokumente zu verschleiern suchen. Das führt zu immer mehr unkontrollierten und damit illegalen Einreisen, die – einmal vollzogen – aus den genannten Gründen kaum mehr rückgängig zu machen sind. Ihre immer größer werdende Zahl erschwert eine systematische Rückführung zusätzlich.

3. Eine Durchbrechung dieses Kreislaufs, der sich auch noch zulasten wirklich politisch Verfolgter auswirkt, ist daher faktisch und rechtlich nur auf Ebene der Einreise in die EU möglich. Denn hier wendet der EGMR das Refoulementverbot i.V.m. dem Kollektivausweisungsverbot aus Art. 4. des 4. Zusatzprotokolls EMRK tendenziell in einer an den Asylbegriff der GFK angepassten Form an. An der Grenze bzw. in halboffenen Transitzentren ist demnach eine Zurückweisung bei verständiger Würdigung jedenfalls in folgenden Fällen erlaubt (und m.E. geboten!):

1) Der Betroffene kann im Rahmen einer Identitätsprüfung und Anhörung im Einzelfall seine Staatsangehörigkeit nicht nachweisen oder keinen nach der GFK relevanten Asylgrund vortragen und ihm droht im Einreisestaat (d.h. in dem Drittstaat, in den er zurückgewiesen werden soll) auch sonst offensichtlich keine unmenschliche Behandlung nach Art. 3 EMRK; oder

2) Der Betroffene überquert ohne Erlaubnis die Grenze oder versucht dies, ohne eine effektive Möglichkeit der Asylantragstellung zu nutzen (vgl. Art. 33 und Art. 31 Abs. 1 GFK).

Der Vorteil einer kursorischen Sachprüfung des Asylgesuchs vor der Zurückweisung im Sinne der 1. Alternative besteht also darin, dass es dann nicht darauf ankommt, ob im betreffenden Drittstaat tatsächlich Zugang zu einem angemessenen Asylverfahren (unter menschenwürdigen Aufnahmebedingungen) besteht, sondern nur auf die allgemeine Menschenrechtslage und insbesondere die Frage, ob dem Antragsteller dort eine unmittelbare Verfolgung mit Gefahren für Leib und Leben droht (vgl. EGMR Rs. Ilias und Ahmed).

4. Anstatt nun diese völkerrechtlichen Vorgaben und Spielräume für eine halbwegs geordnete Einreise zumindest politisch Verfolgter (= Flüchtlinge i.S. der GFK) zu nutzen, bewirkt das Gemeinsame europäische Asylsystem (GEAS) das genaue Gegenteil:

a) Entgegen den an sich strengen formalen Vorgaben des Schengener Grenzkodex (SGK) verzichtet auch die jetzt verabschiedete Reform des GEAS weiterhin auf jegliche Einreisekontrollen für Asylbewerber. Diese müssen nach wie vor weder ihre Identität und Staatsangehörigkeit nachweisen, noch findet eine allgemeine Vorprüfung der Plausibilität ihres Asylgesuchs statt. Und das, obwohl zumeist allgemein bekannt ist, in welchen Staaten gerade welche Personengruppen aus welchen Gründen politisch verfolgt werden und sie somit auch in einem lediglich kursorischen, aber für alle Einreisewilligen geltenden Prüfverfahren relativ rasch identifiziert werden könnten.

Das geplante Grenzverfahren jedoch schafft nicht etwa identifizierten Flüchtlingen einen legalen Zugangsweg in ein rechtsstaatliches Asylverfahren, sondern drängt umgekehrt all diejenigen in einen kurzen Asylprozess, die aus Ländern mit einer durchschnittlichen Anerkennungsquote von maximal 20 Prozent stammen. Das ist wegen der haftähnlichen Bedingungen einerseits menschenrechtlich bedenklich. Andererseits werden Migranten aus Drittstaaten, deren Ablehnungsquote bis zu 79,9 Prozent (!) beträgt oder die schlicht ohne Papiere ankommen, ohne dass man ihnen Täuschungsabsicht nachweisen könnte, weiter eingelassen und im Zweifel bis nach Deutschland durchgewunken.

b) Die geplante GEAS-Reform ist aber nicht nur aus diesen formal-strukturellen Gründen zum Scheitern verurteilt, sondern auch aus materiellen Gründen. Denn mit dem subsidiären Schutz für alle, denen im Heimatland „ernsthafter Schaden“ droht (und das sind schon aufgrund der zahlreichen bewaffneten Konflikte sehr, sehr viele), setzt das GEAS nicht nur das Refoulementverbot der GFK, sondern auch das des EGMR (siehe oben 1.) überobligatorisch um. Denn bei allen Unsicherheiten im Detail lassen sich weder Art. 78 AEUV, noch die Rechtsprechung des EGMR und des EuGH so interpretieren, dass aus dem menschenrechtlichen Refoulementverbot und/oder dem Kollektivausweisungsverbot die Notwendigkeit eines eigenen und EU-einheitlichen, dem Asylstatus der GFK praktisch gleichgestellten Schutzstatus erwachsen würde (genauer Ziffer I.3. und II.2.a) des NJOZ-Aufsatzes). Im Gegenteil setzt dies falsche Anreize, überfordert Behörden und Gerichte und schließlich auch Grenz(einreise)verfahren – schlicht aufgrund der Masse der potenziell Anspruchsberechtigten.

c) Schließlich werden die Reformen den Praxistest auch deshalb vermutlich nicht bestehen, weil sie wieder viel zu umfangreich und kompliziert geraten sind (aus derzeit 140 Seiten werden über 700 Seiten Text!). Sie weisen zahlreiche innere Widersprüche auf und werden die durch SGK und GFK an sich vorgezeichnete Harmonisierung des europäischen Grenz- und Flüchtlingsschutzes nicht im Ansatz realisieren.

5. Wenn man die genannten Grundprobleme des GEAS endlich angehen und zumindest den Flüchtlingsschutz der GFK in praktikabler Weise realisieren wollte, müsste man sich auf das Wesentliche konzentrieren und – unter schnellem Ausbau des Grenz- und Küstenschutzes sowie externer Aufnahmekapazitäten − insbesondere Folgendes regeln:

a) Der subsidiäre Schutz gemäß Art 15 ff. der Anerkennungsrichtlinie wird mit sofortiger Wirkung ausgesetzt.

b) Die EU-Mitgliedstaaten nehmen nur noch Einreise- und Asylgesuche von Personen entgegen, die über Ausweisdokumente unter Angabe ihrer Staatsangehörigkeit verfügen und glaubhaft vortragen, in ihrem Heimatland aus einem der in der GFK genannten Gründe politisch verfolgt zu sein. Die Identität des Bewerbers und die Plausibilität des Asylbegehrens wird in einem dem eigentlichen Asylverfahren vorgelagerten Asyleinreiseverfahren geprüft – wie auch bei dem bereits 2017 von mir vorgeschlagenen elektronischen Asylvisum, für das sich auch der ehemalige Präsident des BVerfG, Prof. Hans-Jürgen Papier, wiederholt ausgesprochen hat.

Mit der Erteilung eines solchen Ad-hoc-Asylvisums an der Grenze wäre sichergestellt, dass Flüchtlinge im Sinne der GFK mit Vorrang vor anderen Migranten in jedem Fall auch dann Zugang zum Asylsystem erhalten, wenn sie zunächst illegal in Europa ankommen. Auch die so wichtige Identitätskontrolle der Einreisenden wäre gewährleistet. Es müssten zahlenmäßig viel weniger Asylverfahren durchgeführt werden und sie könnten wegen der von Anfang an guten Bleibeperspektive auch deutlich beschleunigt werden. Die Quote derer, die schließlich rechtskräftig abgelehnt werden und wieder ausreisen müssen, wäre erheblich reduziert.

c) Bewerber, die sich nicht ausweisen, keinen nach der GFK anerkannten Fluchtgrund geltend machen (können) oder das Asyleinreiseverfahren zu umgehen versuchen, sind – bei eingeschränktem Rechtsschutz − abzulehnen und gleichzeitig entweder in ihr Heimatland, das Land ihrer Einreise oder jedes andere aufnahmebereite Drittland zurück- oder auszuweisen − es sei denn, dort würden ihnen offensichtlich schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.

Besteht keine andere Möglichkeit, sind abgelehnte Migranten in eines der inzwischen außerhalb der EU aufgebauten Aufnahmezentren zu verbringen. Dort können sie, nach Klärung ihrer Identität und im Rahmen bestehender Kontingente, einen Antrag auf humanitäres Einreisevisum in die EU oder einen Mitgliedstaat stellen. Mit dieser Vorgehensweise bliebe das menschenrechtliche Refoulementverbot aus Art. 3 EMRK, sofern es vor Vollendung der Einreise überhaupt anwendbar ist (vgl. Art. 19 Abs. 2 GRCh), auch für jene illegal in Europa ankommende Personen gewahrt, die kein Ad-hoc-Asylvisum an der Grenze erhalten.

6. Zugegeben: Es ist unwahrscheinlich, dass meine Vorschläge im Rahmen der aktuellen Reform-Debatte noch Gehör finden. Aber erstens ist nach der Reform vor der Reform und zweitens könnten sie möglicherweise auch im Rahmen der erneut aufkommenden Diskussion um härtere Kontrollen und Zurückweisungen an den deutschen Binnengrenzen verwertbar sein.

 

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4 Kommentare

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Zweckmäßig wäre es, das Grundrecht auf Asyl ersatzlos aufzuheben. Anrechte auf jahrelangen Verbleib, wenn man einmal das Wort "Asyl!" in D ausgerufen hat, gäbe es dann nicht. Hilfreich und erkenntnisfördernd wäre es auch, in Karlsruhe um und in den Gebäuden des BVerfG ca 10.000 Einschlägige anzusiedeln  ( Mitbenutzung der Präsidententoilette ), und an jedem Privatwohnsitz derer Richter ebenso ca 500.

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Die Idee eines speziellen Asyleinreiseverfahrens, also einer (insbes. elektronischen) Vorprüfung der Identität und  Asylberechtigung greift um sich. Nach Prof. Papier spricht sich auch der Asylrechtler Prof. Kluth dafür aus. Er sieht das Modell "als Anfang eines Diskussionsprozesses. Es wäre eine große Systemänderung – mit dem Ziel, aus der aktuellen Politik des Chaos und der Abschottung zu einem System zu kommen, das auf positive Verbindlichkeit setzt. Aber es müsste nun weiter diskutiert und ausgestaltet werden."

https://www.welt.de/politik/deutschland/plus249281640/Zuwanderung-Dann-k...

 

Sie sprechen ein grundlegendes Problem des derzeitigen Asylsystems an - diejenigen, die wirklich Asyl benötigen, können dies im Zweifel nicht in Anspruch nehmen, während eine große Zahl von Wirtschaftsflüchtlingen die derzeitige Rechtslage ausnutzt. Die Idee eines speziellen Asyleinreiseverfahrens halte ich deshalb für grundsätzlich sinnvoll. Allerdings stellt sich die Frage, wie der Zustrom offensichtlich unberechtigter Antragsteller wirksam gestoppt werden kann.

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Vielen Dank für Ihren Kommentar, Herr Hagen. Der Zustrom offensichtlich unberechtigter Antragsteller kann m.E. bei Einführung des Asyleinreiseverfahrens wirksam gestoppt werden, wenn seine Voraussetzungen mit der Einführung klar kommuniziert werden und es dann auch tatsächlich durchgesetzt wird. Antragsteller, die die Einreisevoraussetzungen nicht erfüllen, müssen also konsequent und lückenlos zurückgewiesen werden. Das spricht sich dann nämlich genauso herum wie aktuell die Tatache, dass eben keine Einreisekontrolle erfolgt und daher mit Erreichen europäischen Bodens gute Chancen auf Aufnahme insbes. in Deutschland bestehen.

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