BVerfG: BAG-Rechtsprechung zum Anschlussverbot bei sachgrundloser Befristung verfassungswidrig

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 13.06.2018

Nur einen Tag nach dem Urteil zum Streikverbot für Beamte veröffentlicht das BVerfG heute seinen lange erwarteten Beschluss zur sachgrundlosen Befristung: Die Auslegung des BAG, das Anschlussverbot (§ 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG) stehe einer erneuten Befristung des Arbeitsverhältnisses nur dann entgegen, wenn zwischen beiden Vertragsverhältnissen weniger als drei Jahre liegen (BAG, Urt. vom 6.4.2011 – 7 AZR 716/09, NZA 2011, 905; Urt. vom 21.9.2011 – 7 AZR 375/10, NZA 2012, 255), ist mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren. Richterliche Rechtsfortbildung dürfe den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht übergehen und durch ein eigenes Regelungsmodell ersetzen. Hier habe sich der Gesetzgeber klar erkennbar gegen eine solche Frist entschieden.

Keine starre Drei-Jahres-Frist, aber verfassungskonforme Reduktion des "jemals-zuvor"-Anschlussverbots

Allerdings hat das BVerfG zugleich eine verfassungskonforme Auslegung des Anschlussverbots angemahnt: Ein generelles Verbot der sachgrundlosen Befristung bei nochmaliger Einstellung bei demselben Arbeitgeber sei unverhältnismäßig, wenn und soweit eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten nicht besteht und das Verbot der sachgrundlosen Befristung nicht erforderlich ist, um das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform zu erhalten. Dies könne insbesondere der Fall sein, wenn eine Vorbeschäftigung sehr lang zurückliegt, ganz anders geartet war oder von sehr kurzer Dauer gewesen ist. Dies könne etwa bestimmte geringfügige Nebenbeschäftigungen während der Schul- und Studienzeit oder der Familienzeit, die Tätigkeit von Werkstudierenden oder die lang zurückliegende Beschäftigung von Menschen, die sich später beruflich völlig neu orientieren, betreffen. Die Fachgerichte könnten und müssten in solchen Fällen den Anwendungsbereich von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG einschränken.

Vor diesem Hintergrund erweist sich die Ausgangsentscheidung des BAG (NZA 2011, 905), die nicht Gegenstand des verfassungsgerichtlichen Verfahrens war, im Ergebnis wohl als zutreffend. Denn dort bestand die "Vorbeschäftigung" der Klägerin in einer Tätigkeit als studentische Hilfskraft an einer Universität während des Studiums, ihre spätere sachgrundlos befristete Einstellung erfolgte nach Abschluss des Studiums als Lehrerin.

BVerfG, Beschluss vom 6.6.2018 - 1 BvL 7/14 u.a., Pressemitteilung hier; vollständiger Beschluss hier auf den Seiten des BVerfG

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37 Kommentare

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Richterliche Rechtsfortbildung dürfe den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht übergehen und durch ein eigenes Regelungsmodell ersetzen.

Ein Satz, den sich jeder Arbeitsrichter kalligrafisch ausfertigen, in Gold rahmen und jederzeit sichtbar auf seinen Schreibtisch stellen und zusätzlich an die Wand projezieren sollte.

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Letzteres dürfte daran scheitern, dass weder die Dienstzimmer der Richterinnen und Richter noch die Sitzungssäle mit Beamern ausgestattet sind.

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Besonders trennscharf ist "sehr lang zurückliegt, ganz anders geartet war oder von sehr kurzer Dauer" nicht...

Klingt ein bißchen wie Nachhilfe:

"Die Auslegung der Gesetze durch die Fachgerichte muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren. Dazu muss sie auch die Gesetzesmaterialien in Betracht ziehen. In Betracht zu ziehen sind hier die Begründung eines Gesetzentwurfes, der unverändert verabschiedet worden ist, die darauf bezogenen Stellungnahmen von Bundesrat und Bundesregierung und die Stellungnahmen, Beschlussempfehlungen und Berichte der Ausschüsse. Diese zeigten hier deutlich auf, dass eine sachgrundlose Befristung zwischen denselben Arbeitsvertragsparteien grundsätzlich nur einmal und nur bei der erstmaligen Einstellung zulässig sein soll."

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Allerdings hat das BVerfG zugleich eine verfassungskonforme Auslegung des Anschlussverbots angemahnt...

Ich fürchte aber, dass eine verfassungskonforme Auslegung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG gar nicht möglich ist, weil die völlig eindeutige Norm sich jeglicher Auslegung entzieht, also auch einer verfassungskonforme Auslegung, vgl.: "Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung endet allerdings dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch träte... Anderenfalls könnten die Gerichte der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers vorgreifen oder diese unterlaufen... Das Ergebnis einer verfassungskonformen Auslegung muss demnach nicht nur vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt sein, sondern auch die prinzipielle Zielsetzung des Gesetzgebers wahren..." (BVerfG, B. v. 16.12.2014 - 1 BvR 2142/11, Rdnr. 86).

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Diese Befürchtung teilt der Erste Senat offenkundig nicht:

Das sich sonst in der Auslegung des Arbeitsgerichts aus § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG ergebende Verbot der sachgrundlosen Befristung des Arbeitsvertrages kann insbesondere unzumutbar sein, wenn eine Vorbeschäftigung sehr lang zurückliegt, ganz anders geartet war oder von sehr kurzer Dauer gewesen ist. So liegt es etwa bei geringfügigen Nebenbeschäftigungen während der Schul- und Studien- oder Familienzeit (vgl. Bauer, in: NZA 2011, S. 241 <243>; Löwisch, in: BB 2001, S. 254; Rudolf, in: BB 2011, S. 2808 <2810>), bei Werkstudierenden und studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Rahmen ihrer Berufsqualifizierung (vgl. dazu BAG, Urteil vom 6. April 2011 - 7 AZR 716/09 -, BAGE 137, 275 Rn. 2) oder bei einer erzwungenen oder freiwilligen Unterbrechung der Erwerbsbiographie, die mit einer beruflichen Neuorientierung oder einer Aus- und Weiterbildung einhergeht (vgl. Preis, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2016, § 620 BGB Rn. 182; ähnlich Löwisch, in: BB 2001, S. 254 f.). Die Fachgerichte können und müssen in derartigen Fällen durch verfassungskonforme Auslegung den Anwendungsbereich von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG einschränken.

Rn. 63 des Beschlusses; Hervorhebung diesseits

Diese Befürchtung teilt der Zweite Senat offenkundig nicht...

Es handelt sich doch beide Male um den Ersten Senat! Merkwürdig...

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...außerdem ist die von mir zitierte Rechtsprechung die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. schon BverfGE 8, 210/221; Rüthers u. a. Rechtstheorie, Rdnr. 763).

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@ Gast: Wie sähe denn Ihre Lösung aus? Das ist glaube ich gar nicht so einfach, wenn man die vorgelagerte Entscheidung - ein unbedingtes "jemals-zuvor"-Verbot ist wegen unverhältnismäßigen Eingriffs in die Berufs- und Vertragsfreiheit der Arbeitgeber verfassungswidrig (Rn. 62 des Beschlusses) - akzeptiert (was man natürlich nicht muss, aber Ihnen ging es ja um die verfassungskonforme Auslegung und deren Grenzen). Wenn man - wie Sie und damit anders als das BVerfG - § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG nicht für verfassungskonform reduzierbar hält, ist die Norm verfassungswidrig. Dann bleibt § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG übrig, also eine unbegrenzte Möglichkeit sachgrundloser Kettenbefristungen. Diese ist aber sicher ebenso verfassungswidrig und zudem mit § 5 der Rahmenvereinbarung zur Befristungs-RL 1999/70/EG nicht vereinbar. Scheinbare Konsequenz: § 14 Abs. 2 TzBfG ist insgesamt verfassungswidrig und damit die sachgrundlose Befristung vollständig weg. Das kann man zwar politisch für richtig halten, widerspräche aber der Ausgangsthese des BVerfG von der Verfassungswidrigkeit des unbegrenzten Anschlussverbots: Wenn schon ein ausnahmsloses "jemals-zuvor"-Verbot sachgrundloser Befristungen verfassungswidrig ist, wäre die völlige Abschaffung sachgrundloser Befristungen es doch erst recht. Oder?

Wenn man wirklich § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG in seiner wörtlichen Unbedingtheit angesichts des Art. 12 GG für verfassungswidrig (das Gericht sagt "unzumutbar") halten würde, hielte ich dafür, dass das Bundesverfassungsgericht das klar ausspricht, aber dem Gesetzgeber eine Frist zur Nachbesserung setzt, für spezielle Härtefälle eine passende Ausnahmevorschrift zu formulieren, ähnlich der Formulierung, das das Bundesverfassungsgericht ohnehin im Urteil (Rn. 62 f.) verwendet. Anders läßt sich m. E. das Dilemma nicht sauber lösen. Diese Nachbesserungs-Methode ist auch gar nicht neu (vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15, Rdnr. 129 ff.). Das Bundesverfassungsgericht muss konsequent sein. Es darf nicht mit der einen Hand die Gewaltenteilung schützen, aber gleichzeitig mit der anderen Hand Verstöße durchwinken, bzw. fordern. Dabei ist, außer Verwirrung, überhaupt nichts gewonnen, insbesondere kein gewaltenteiliger Rechtsstaat, den das Bundesverfassungsgericht zu hüten hat.

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Da pflichte ich Ihnen uneingeschränkt bei. Im Kern liest sich die Entscheidung als "Verfassungswidrig ist es nicht, aber ein bißchen dann doch...". Wenn man die Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung sieht, läge ja auch der Rückgriff auf die in den Verjährungsfristen enthaltene Grundwertung - zur Ehrenrettung des BAG - nicht allzu fern... Ich halte es für widersprüchlich, die Verfassungsmäßigkeit zu bejahen, aber gleichwohl eine inhaltliche Einschränkung durch verfassungskonforme Auslegung zu fordern. Das belegt ja gerade, dass die Norm in ihrer gegenwärtigen Form nicht insgesamt verfassungsgemäß ist. Im Prinzip könnte man mit dem Verweis auf eine quasi "geltungserhaltende Reduktion" faktisch jede Norm retten. Es wird nur selten der Fall sein, dass eine zu prüfende Norm vollumfänglich in jeglichem denkbaren Anwendungsfall verfassungswidrig ist.

 

 

 

 

 

Ich sehe hier auch den Gesetzgeber in der Pflicht.

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Sie haben Recht. Eine "geltungserhaltende Reduktion" im Verfassungsrecht wäre systemwidrig und mir völlig neu. Ebenso scheitert wohl eine "teleologische Reduktion", die nur in Frage kommt, wenn der Gesetzgeber planwidrig falsch, bzw. zu weit, aber nicht wenn er verfassungswidrig formuliert hat. Was das Gericht im Zusammenhang mit der Prüfung der Verfassungswidrigkeit mit "unzumutbar" meint, ist mir ebenso schleierhaft. "Unzumutbar" ist keine verfassungsrechtliche Kategorie.

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Es verblüfft mich, dass Ihre und ich meine nach GG auch unsere dargestellte Vorgehensweise nicht grundsätzlich und selbstverständlich als verfassungsgemäß zwingend verstanden und beherrscht wird. Wir landen bei der Definition von Recht und Gesetz, wie auch dem legitimen Gesetzgeber. Recht ist nicht eine Form der justiziellen Gesetzgebung, sondern die Umsetzung der legislativen Gesetzgebung. Es ist damit ohne Weiteres vereinbar, dass Gerichte und insb. das BVerfG feststellen können, dass Gesetze im konkreten oder allgemeinen Fall nicht verfassungskonform anwendbar sind. (Befristete) Übergangsregelung und der Gesetzgeber muss nachbessern. Und gut ist bzw. wird es. Qualität in der Gesetzgebung und der Rechtsprechung wäre doch die absehbare Folge.

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Man wagt es ja kaum noch zu sagn, aber wenn Herr Justizmaas das im Juli 2017 so drastisch öffentlich gesagt hat, sogar zugunsten facebook: PRIVATAUTONOMIE. Vertragsfreiheit. Dreimal!!!!! ab Minute 39:05  und dann länger:   https://www.youtube.com/watch?v=K_9dAkrMRv8  Wäre das nicht auch im Dienstvertragsrecht gut? Privatautonomie!! Vertragsfreiheit!! Was Maas so sehr lobt, geradezu dreimal hervorhebt!!!!!

Was ist mit aktuell noch laufenden Anschlussvertägen, die unter keine dieser Ausnahmen fallen und die im Vertrauen auf die BAG- Rechtsprechung (letztes Arbeitsverhältnis länger als 3 Jahre her) geschlossen wurden? Sind die jetzt alle unbefristet?

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Nun, auf Sinn für die deutsche Wirtschaft kommt es ja Judikateuren wie den her waltenden nicht an. Der "Gesetzgeber" hat auch in diesem Bereich des Arbeits-"Rechts" erneut die "Belastungsfähgkeit der Wirtschaft" testen wollen. Wenn dann das BAG insoweit einmal vernünftig dem eigentlich verfassungsrechtlich relevanten Prinzip der Bestimmtheit einer Regelung durch Einziehen einer Korsettstange klarer Frist ein klein wenig Substanz hat verleihen wollen, so wird diese Klarheit in Karlsruhe zertrümmert. Verbot "kann",   "insbesondere"    "unzumutbar" sein. Solche Judikate sind unzumutbar.  "Sache der Fachgerichte". Immerhin soll ja die Freiheit des anstellenden Unternehmens auch von verfassungsrechtlichem Belang sein. Dann müsste eine Einschränkung eigentlich auch dem Bestimmtheitserfordernis genügen. Jeder "Rechtsberater" mag denn nun also dartun, sinnvoll mit persönlicher Haftung für die Richtigkeit seiner Auskunft, ob in einem konkreten Fall eine vertragliche Regelung der "Befristung" nun wirksam ist oder nicht. Solche "Richter" selbst haften aber für gar nichts. Das ist ein Problem. Allerdings ist auch ein Problem: Was sollen "Anschlussverträge sein? "Anschluss" bei Abstand von mehr als drei Jahren? Immerhin - ein weiteres Sargnägelchen für die deutsche Wirtschaft, und politisch ein Baustein für de gewnsschte Förderung von Wirtschaft in  der Dritten Welt. In Bangladesch etwa dürfte solches rechtliches "Weistum" nicht gelten. Wir wollen ja die Lebensverhältnisse der Menschen in der Dritten Welt vor Ort fördern. 

Der "Gesetzgeber" hat auch in diesem Bereich des Arbeits-"Rechts" erneut die "Belastungsfähgkeit der Wirtschaft" testen wollen

So ein Unsinn! Ziel des Gesetzgebers waren die "strukturell unterlegenen" Arbeitnehmer, die des "Schutzes tatsächlich bedürfen, weil eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten und auch eine Gefahr für die soziale Sicherung durch eine Abkehr vom unbefristeten Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform besteht" (BVerfG, B. v. 6.6.2018 - 1 BvL 7/14, Rdnr. 51). Wollen Sie Ihre unqualifizierten Unsinnsstellungnahmen nicht ein wenig einschränken, bzw. hilfsweise besser überlegen?

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Selbst wenn Sie in der Sache recht hätten, liegt es in einem demokratischen Rechtsstaat nicht im Ermessen von Richtern, Gesetze durch Anwendungsvorschriften zu ersetzen oder auch nur zurechtzubiegen. Klare Kante, wenn der Wortlaut keine verfassungskonforme Anwendung möglich macht. Grundrechtswidrige Folgen können durch eine abgewogene Übergangsregelung des BVerfG vermieden werden. Für ordentliche Gesetze ist der Gesetzgebee zuständig, der das auch hinbekommen wird, wenn die Zuständigkeiten mal klar beachtet werden. Es muss zur Kernkompetenz des Wählers werden, Abgeordnete und Parteien zu erkennen, die in der Lage sind, einen denokratischen Rechtsstaat funktionsfähig zu definieren.

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Fast alle, ja. Der einzige Rettungsanker für den Arbeitgeber ist, dass er die Befristung möglicherweise auch auf einen Sachgrund i.S. von Absatz 1 stützen kann. Oder dass der Arbeitnehmer die dreiwöchige Klagefrist nach Ablauf der Befristung versäumt.

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Die Beachtung des in den Gesetzesmaterialien klar dokumentierten Willens des Gesetzgebers ist Ausdruck demokratischer Verfassungsstaatlichkeit und trägt dem Grundsatz der Gewaltenteilung Rechnung. Noch nie hat das Bundesverfassungsgericht  ein so klares Bekenntnis zur subjektiven Auslegungstheorie abgegeben. Diese hat damit der objektiven Auslegungstheorie endgültig den Rang abgelaufen.(so auch schon Wedel, ZMR 2017,964 mwN; JurBüro 2014,122) 

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Das Problem ist leider, dass sich die Gerichte zunehmend zur "Legislativen" aufschwingen und durch Billigkeitserwägungen die bestehenden Gesetze aushebeln können und dies leider auch tun. Derartige Billigkeitserwägungen sind das Einfallstor für politische Einflussnahmen. Gerade die obersten Bundesgerichte sind ja "politisch" besetzt, so dass dort die Thematik "Unabhängigkeit" ohnehin diskussionswürdig erscheint. Eine derartige Situation ist brandgefährlich, denn sie untergräbt das Prinzip der Gewaltenteilung. Wie gefährlich es ist, wenn Gerichte sich zur "Legislativen" aufschwingen, haben wir im Dritten Reich gesehen, wo plötzlich bestehende Rechte für bestimmte Personengruppen durch Billigkeitserwägungen faktisch aufgehoben werden konnten.

Daher ist dieser Warnschuss seitens des BVerfG durchaus sinnvoll, aber auch dringend notwendig

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Rieble hat schon 2011 richtigerweise vorhergesagt: "Das Arbeitsrecht wird dem BVerfG ein weiträumiges Betätigungsfeld verschaffen, weil die Arbeitsgerichtsbarkeit 1926 mit dem Auftrag sozialen Einführungsvermögens gegen den zivilistischen Positivismus geschaffen wurde und bis heute freirechtlich agiert... Die im Vergleich mit anderen Fachgerichten „offensive“ und methodenfreie Richterrechtsetzung des BAG wird vielfach kritisiert. Das Gericht erfindet, was es sozialpolitisch braucht, und usurpiert eine Richterrechtsetzungskompetenz nicht nur im von der (zaudernden) Gesetzgebung freigehaltenen Arbeitskampfrecht, sondern auch dort, wo es abschließende Kodifikationen gibt" (Rieble, Richterliche Gesetzesbindung und BVerfG, NJW 2011, 819). Liest denn niemand mehr die NJW? Liest überhaupt noch jemand und macht sich Gedanken über das, was er tut? Das BAG hätte es spätestens seit damals wissen können und hat trotzdem sehenden Auges, hier und an anderen Stellen, an einer verfassungswidrigen Rechtsprechung festgehalten.

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Das Unglaubliche ist ja dass das BAG selber expilizit ausgeführt hat, dass die Gesetzesmaterialien dafür sprechen das Verbot der Vorbeschäftigung in § 14 Abs.2 Satz 2 zeitlich unbeschränkt zu verstehen. Dies hat es dann einfach beiseite geschoben mit der Aussage, dass die subjektiven Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe aber nicht entscheidend seien. Wenn aber die Gesetzesmaterialien wie hier ("nur bei Neueinstellung zulässig, d.h. bei der erstmaligen Beschäftigung") eine unmittelbare Antwort auf die zu entscheidende Rechtsfrage geben, kommt ihnen ein erhebliches von weiteren Überlegungen entlastendes Gewicht zu. Der Wortlaut der Materialien birgt dann die Lösung.(vgl. diesbezüglich schon meine kritischen Anmerkungen zur BAG-Rechtsprechung in AuR 11,413 und AuR 14,31) Es ist sehr zu begrüßen, dass das jetzt auch vom Bundesverfassungsgericht mit noch nie da gewesener Deutlichkeit ausgesprochen wurde und zwar durchaus belehrend gegenüber dem BAG.(vgl. LTO)

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Ich finde das in den Gesetzesmaterialien nicht so klar. Die zitierte Formulierung steht im ausdrücklichen Zusammenhang mit Kettenbefristungen. Wenn ich aber im Studium mal wo jobbe und dann Jahre später zurückkomme, hat das nichts mit Kettenbefristung zu tun. Ich kann der Gesetzesbegründung nicht entnehmen, dass sich der Gesetzgeber überhaupt Gedanken dazu gemacht hat, ob nicht irgendwann vielleicht ein Strich gezogen werden sollte. Und dann fällt es mir auch schwer zu sagen, dass der Gesetzgeber klar etwas gewollt habe, über das er vielleicht gar nicht nachgedacht hat.

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na wenn das nicht klar ist: "nur bei Neueinstellung zulässig, d.h. bei der erstmaligen Beschäftigung"

 

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Der Satz an sich mag klar sein, aber es geht hier doch gerade um die Motive des Gesetzgebers. Wenn Sie nicht hinterfragen, was der Gesetzgeber sich dabei gedacht hat, dann tun Sie nur so, als wären Sie an seinen Intentionen interessiert.

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außerdem belegt auch der weitere Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens die bewuße Entscheidung des Gesetzgebers nur einmalig und nur bei der erstmaligen Begründung eines Arbeitsverhältnisses eine sachgrundlose Befristung zu gestatten. Der Gesetzgeber hat sich nämlich auch von der im weiteren Gesetzgebungsverfahren mehrfach geäußerten Kritik am Anschlußverbot nicht überzeugen lassen und sich letztendlich darüber hinweg gesetzt. (vgl. auch meine kritische Anmerkung zur BAG-Entscheidung in AuR 2011,413)

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Die Unklarheit zum Umgang mit Gesetzen, die wörtlich oder in ihrer maßgeblichen Bedeutung zu vermeintlich verfassungswidriger Rechtsprechung führen würden, irritiert mich immer wieder. Sicher kein alltägliches Problem, aber die Fundstücke häufen sich. Beispiele: U-Ausschuss zur NSA /PUAG BGH-Auslegung gegen den Wortlaut, Prüfumfang des Amtsrichters zum EU-Haftbefehl /BVerfG stellt verfassungswidrigen Wortlaut des Gesetzes fest, erklärt aber die darauf gerichtete VB für erfolglos.

Wie tatsächlich damit umzugehen ist, ergibt sich doch aus der Gewaltenteilung und der Bindung der Gerichte an die Gesetze. Beispiel: Gemeinsames Sorgerecht Nichtverheirateter. Das Gesetz wurde zwar sehr zögerlich und nur auf Druck des EGMR vom BVerfG als verfassungswidrig und nicht anwendbar erklärt. Bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber wurde vom BVerfG eine Übergangsregelung festgelegt. So und nicht in Überdehnung der eigenen Legitimität funktioniert Rechtsstaat. Im Konkreten haben das einige Vorkommentatoren ja schon dargestellt.

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Nachdem jetzt klar ist, dass die Auslegung des BAG verfassungswidrig ist, erwarte ich eine Rechtsprechungsänderung des BAG dahingehend, dass die Berufung eines Arbeitnehmers auf das Befristungsverbot rechtsmissbräuchlich ist, wenn das letzte Arbeitsverhältnis mehr als drei Jahre zurückliegt entsprechend dem alten Erfurter Grundsatz: Was sich durch juristische Auslegung mit feiner Nadel nicht stricken läßt, vorschlaghämmert das BAG mittels "Rechtsmissbrauch" passend, Rechtsstaat hin oder her.

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Gerade sind die Neuauflagen 2019 der Beck`schen Kommentar-Klassiker Palandt, BGB und Baumbach, ZPO erschienen. Diese habe ich mal darauf hin durch gesehen wie die in methodischer Hinsicht bahnbrechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6.6.18 (=NJW 18,2542) in den Rubriken Auslegung/Rechtsfortbildung eingearbeitet worden ist.  Beim Baumbach (Autor: Hartmann) wird die Entscheidung in der Einleitung III weder in der Rubrik Auslegung (Rn. 35 ff) noch in der Rubrik Rechtsfortbildung (Rn. 50,51) erwähnt. In der Rn. 42 führt Hartmann aus, dass die Entstehungsgeschichte hilfsweise beachtbar sei. Großzügiger seien diesbezüglich BVerfG, NJW 13,677, Wedel, JurBüro 13,177 und Wischmeyer, JZ 15, 957; kaum noch hinnehmbar Wedel, JurBüro 14,120. In meiner Rechtsprechungsanalyse JurBüro 14,120 lautete das Fazit: Der objektivierte Wille des Gesetzgebers früherer Prägung ist out. Wenn die Gesetzesmaterialien eine unmittelbare Antwort auf die zu entscheidende Rechtsfrage geben und auch der Wortlaut dem zumindest nicht entgegen steht sind die Gerichte hieran gebunden. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6.6.18 sind jetzt Hartmanns Ausführungen "kaum noch hinnehmbar".  Vielleicht hat er ja BVerfG, NJW 18,2542 auch deshalb nicht zitiert. Entgangen sein kann ihm diese Entscheidung, die großes Aufsehen erregt hat, eigentlich nicht. Da für den Baumbach, ZPO mit "steht für höchste Aktualität" geworben wird und der Kommentar laut Vorwort auf dem Stand August 2018 ist, ist die Nicht-Zitierung von BVerfG, NJW 18,2542 "kaum noch hinnehmbar". Beim Palandt ist BVerfG, NJW 18,2542 immerhin in der Einleitung (Autor: Grüneberg) in der Rubrik Rechtsfortbildung und ihre Grenzen (Rn. 57) zu finden. In der Rubrik Auslegung (Rn.40 ff) bleibt die BVerfG-Entscheidung dagegen unerwähnt und das obwohl BGH-Richter Grüneberg in Rn.40 folgendes darlegt: Maßgeblich ist der im Gesetzeswortlaut objektivierte Wille des Gesetzgebers, sog. objektive Theorie; anders die auf den Willen des historischen Gesetzgebers  abstellende subjektive Theorie. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung vom 6.6.18  ein ganz klares Bekenntnis zur subjektiven Auslegungstheorie abgegeben. Prof. Eva Kocher hat in verfassungsblog.de vom 19.6.18 zutreffend ausgeführt, dass das Bundesverfassungsgericht damit das Gewicht der Gesetzesmaterialien von nicht unerhebliche Indizwirkung zur Verbindlichkeit eines klar erkennbaren Willens erhöht hat. Grüneberg hätte, wenn er schon dennoch an der objektiven Auslegungstheorie festhalten will, zumindest BVerfG, NJW 18,2542 bei den Vertetern der subjektiven Theorie nennen müssen.

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Ergänzung meines vorstehenden Beitrags: Neben BVerfG, NJW 2018,2542 sind als starke Vertreter der subjektiven Auslegungstheorie z.B. noch zu nennen: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2018, § 22 G: Die subjektive Auslegung ist von der Verfassung geboten; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 177-184: Begründung: Gewaltenteilung, Gesetzesbindungspostulat; Sauer in: Krüper, Grundlagen des Rechts, 2013, § 9, Rn.30: Die subjektive Theorie ist von Verfassungs wegen zwingend; Burkiczak, BVerfGG, 2015, S.42: Maßgeblich ist der subjektive Wille der am Gesetzgebungsverfahren  beteiligten Personen; Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S.164: Nur die subjektive Theorie gewährleistet die verfassungsrechtlich geforderte Gewaltenteilung sowie Wedel, Die Rolle entstehungsgeschichtlicher Argumente in der Rechtsprechng des BGH, 1988, S.198-200; ZMR 2017,963  

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absolut gegensätzlich BGH AnwZ 25/18 vom 14.1.2019: Angesichts der Maßgeblichkeit des objektivierten Willens des Gesetzgebers können etwaige subjektive Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder nicht entscheidend sein. Unglaublich !

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ebenfalls nicht nachvollziehbar: BSG B 1 KR 10/18 vom 11.9.2018: Die Gesetzesmaterialien sind mit Vorsicht, nur unterstützend und insgesamt nur insofern heranzuziehen, als sie auf einen objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen und im Gesetzeswortlaut einen Niederschlag gefunden haben. Das BSG hat also die viel gescholtene (z.B. Wedel, MDR, 1989,29, JurBüro 2016,342) und nach der Bundesverfassungsgerichts-Entscheidung vom 6.6.2018 eigentlich nicht mehr vertretbare Andeutungstheorie wieder heraus gekramt um das von ihm gewünschte Auslegungsergebnis zu rechtfertigen.

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Subjektive Auslegungsansätze haben manche Stärken, aber auch Schwächen. Im sogenannten "demokratischen" Parlament werden auch Normierungskoalitionen geschlossen und in Abstimmung umgesetzt, die mit Sache und Absicht teils nichts zu tun haben, wohl aber mit Pokerartigem Kuhhandel: Stimmst Du für mein Stöckchen, dann stimm ich für Dein Stöckchen. - Ebenso bedürfen auch manche Polit-Urteile einer Prüfung auf subjektive Absicht. Klassisch galt eigentlich: die Begründung muss die tragenden Erwägingen für den Spruch mitteilen. Alles andere wären Nebengelüte, die der Spruchkörper aus fallentschedungsentfernten poltisisierenden Absichten einflicht. So beim BVerfG-Urteil zum NPD-Verbot 17.1.2017: Spruch: kein Verbot. Begründung: Teil 2 der gedruckten Begründung. Teil 1 war irrelevant für den Spruch. Es ist  nur politisierendes Gequake , um jener Partei doch eins auszuwischen. "Wir würden ja so irrsnnig gern die verbieten, ahnen aber, dass wir damit in Straßburg auf der Schnauze landen - oder , in der Diktion einer Demokraturministerin: "eins auf die Fresse kriegen" würden. So geben wir als Gratisbonbon den Demokraturaposteln vielleicht anderweitig, völlig jenseits der Fallfage, auswertbare Knüppel der Niedermachung an die Hand."

wenn aber der Wille des Gesetzgebers aus den Gesetzesmaterialien ganz klar erkennbar ist muss er schon auch von den Gerichten beachtet werden. (vgl. ausführlich Wedel, JurBüro 2016,342)

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"Wenn" "ganz klar"- ja, das mag sein. So etwa im Bundestag die Änderung der Geschäftsordnung wegen des Alterspräsidenten. Da hat der "wahre Wille" allerdings nicht einmal eine Andeutung im Wortlaut erfahren. Und ob zum "Willen" gehörte, dass dann 2017 ein Parlamentsfrischling, der direkt zuvor wie seine Partei gar nicht im Bundestag war, amtieren sollte, wäre auch noch nach dem "Willen" zu prüfen. Zu so etwas sagt man auch "durchsichtig". In Parlamentspapieren steht dazu allerdings nichts.

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