Einlassung des entbundenen Betroffenen ist auch zu berücksichtigen, wenn sie erst 20 min vor Termin gefaxt wird

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 16.08.2018
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht108|11975 Aufrufe

Nun ja...je größer das Gericht, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Fax nicht innerhalb von 20 Minuten bei dem zuständigen Richter landet. So auch hier in einem Fall, den das OLG Bamberg zu entscheiden hatte:

Das AG hat den Betr. wegen eines zum Unfall führenden Abbiegefehlers zu einer Geldbuße von 85 Euro verurteilt. 
 
Das schriftliche Urteil enthält keine Entscheidungsgründe. 
 
Mit seiner gegen dieses Urteil gerichteten Rechtsbeschwerde, deren Zulassung er beantragt, rügt der Betr. die Verletzung formellen und materiellen Rechts. 
 
Das Rechtsmittel erwies sich als erfolgreich.
 
 
Aus den Gründen:
 
Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, weil es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben (§ 80 I Nr. 2, II Nr. 1 OWiG). Die Verfahrensrüge, das Gericht habe den Sachvortrag des Betr., bei Einleitung des Abbiegevorgangs mit seinem Fahrzeug sei kein weiteres Fahrzeug sichtbar gewesen und er habe den Abbiegevorgang sofort nach dessen Sichtbarwerden abgebrochen, übergangen bzw. nicht zur Kenntnis genommen, ist zulässig und auch begründet. Dieses Vorgehen verletzt den Anspruch des Betr. auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG).
 
1. Art. 103 I GG verpflichtet das Gericht, das Vorbringen des Betr. zur Kenntnis zu nehmen und in seine Entscheidungserwägungen einzubeziehen (vgl. nur BVerfG NJW 1992, 1875 und NJW 1996, 2785, 2786). Zwar kommt ein Verstoß gegen rechtliches Gehör nach gefestigter höchstrichterlicher Rspr. (vgl. etwa BGH NStZ-RR 2013, 157) nur dann in Betracht, wenn sich aus den besonderen Umständen des konkreten Einzelfalles ergibt, dass der Tatrichter ein Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. BVerfGE 54, 86; KK/Senge OWiG 5. Aufl. § 80 Rn. 41 m.w.N.). Solche besonderen Umstände liegen hier jedoch vor.
 
a) Ausweislich des Sitzungsprotokolls hat das AG die am Hauptverhandlungstag eingegangene schriftliche Einlassung des Betr. nicht nur nicht in die Hauptverhandlung eingeführt, sondern sogar unzutreffender weise festgestellt, dass dieser sich über die Einräumung der Fahrereigenschaft hinaus nicht zur Sache einlasse. Auch aus den Urteilsgründen ergibt sich nicht, dass das AG die für die Schuldfrage relevante Einlassung zumindest der Sache nach in Betracht gezogen und für unerheblich oder widerlegt gehalten hätte. Von einer Absetzung schriftlicher Gründe hat das Gericht vielmehr in rechtsfehlerhafter Weise abgesehen, obwohl die in § 77b I 1 und S. 3 OWiG genannten Voraussetzungen hierfür mangels Verzichts und mangels Vertretung des Betr. in der Hauptverhandlung nicht vorgelegen haben.
 
b) Darauf, dass die vom Verteidiger weitergeleitete Einlassung des Betr. erst am 22.03.2018 um 14.24 Uhr und damit nur kurz vor dem auf 14.45 Uhr angesetzten Hauptverhandlungstermin per Telefax beim AG einging und möglicherweise dem zuständigen Richter gar nicht mehr vorgelegt wurde, kommt es nicht an. Maßgeblich ist vielmehr allein, dass nach Aktenlage die Einlassung das AG am Terminstag vor Beginn der Hauptverhandlung tatsächlich erreicht hatte und deshalb bei gehöriger gerichtsinterner Organisation dem zuständigen Richter rechtzeitig hätte zugeleitet werden können. Im Falle der Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens nach § 74 I OWiG gebietet es die Aufklärungs- bzw. Fürsorgepflicht, dass der Richter sich zuvor bei seiner Geschäftsstelle informiert. Dies entspricht st.Rspr. des Senats für den Fall des Eingangs eines Entbindungsantrags nach §§ 73 II, 74 II OWiG (vgl. u.a. OLG Bamberg, Beschluss vom 30.10.2007 – 2 Ss OWi 1409/07 = NStZ-RR 2008, 86 = NZV 2008, 259; vom 27.01.2009 - 2 Ss OWi 1613/08 = NStZ-RR 2009, 149 = ZfS 2009, 290 = NZV 2009, 355 = OLGSt OWiG § 74 Nr. 2 und vom 29.12.2010 – 2 Ss OWi 1939/10 = NZV 2011, 409, jeweils m.w.N.; vgl. auch OLG Naumburg, Beschluss vom 25.08.2015 – 2 Ws 163/15 [bei juris] sowie KG, Beschluss vom 10.11.2011 – 2 Ss 286/11 [bei juris] und vom 28.08.2014 – 122 Ss 132/14 = StraFo 2014, 467 = VRS 127 [2014], 181) und kann in der vorliegenden Fallkonstellation nicht anders gehandhabt werden, da es dem Betr. jederzeit freisteht, sein Einlassungsverhalten auch kurzfristig zu ändern und da schriftliche Mitteilungen des Betr. bzw. prozessuale Gesuche erfahrungsgemäß nicht selten noch am Terminstag bei Gericht eingehen.
 
2. Das Urteil beruht auch auf dem Rechtsfehler. Es ist nicht auszuschließen, dass dieses bei Berücksichtigung der Einlassung des Betr. zu seinen Gunsten ausgefallen wäre.

 
OLG Bamberg Beschl. v. 3.7.2018 – 3 Ss OWi 932/18, BeckRS 2018, 15195
 
Ein Verteidiger ohne große Verteidigungschancen wird so stets wert darauf legen müssen, kurz vor dem HVT ein Fax mit einer Einlassung an das Gericht senden zu lassen, wenn er erwarten kann, dass das Fax den zuständigen Richter ohnehin nicht mehr erreicht. Na: Schönen Dank! 

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108 Kommentare

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Nun, aber bittschön: Sekunden zählen. Technischer Faxeingang. Bemerkt Mitarbeiter. Ruft auf, drückt auf Knopf, Ausdruck. Wie lange ? / OVG  Münster zählt Sekunden! Dann Lektüre, an wen? Dann: Anruf? Bote? Wieviel Personal haben die , das wartet, damit EIN Fax zu Fuß transportiert werden kann? Wie lange der Weg im Gericht?  OVG MÜnster: Sekunden zählen!!! Das ist wahrer "Rechtsstaat"!

In der Diskussion ist wohl auch etwas schief gegangen. Die "Verletzung des rechtlichen Gehörs" bedeutet nicht, dass der Richter oder das Gericht die Norm verletzt hat, sondern im Verfahren wurde die Norm verletzt. Die Bewertung hängt damit nicht davon ab, ob tatsächlich ein Fehlverhalten Ursache für die Normverletzung ist. Die im Prinzip nebensächliche Anmerkung des OLG zur Gerichtsorganisation scheint sich in der Bewertung hier zum entscheidenden Kriterium der Rechtsfrage ausgewachsen haben.    
 

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Ein Verteidiger ohne große Verteidigungschancen wird so stets wert darauf legen müssen, kurz vor dem HVT ein Fax mit einer Einlassung an das Gericht senden zu lassen, wenn er erwarten kann, dass das Fax den zuständigen Richter ohnehin nicht mehr erreicht. Na: Schönen Dank!

Herr RiAG Klemm sieht m.E. nun ähnliche Faxe auf die Gerichte noch voraus und scheint nicht sehr froh darüber zu sein.

Kann ich auch gut verstehen.

Fortsetzung (OLG Bamberg (Beschluss vom 03.07.2018 - 3 Ss OWi 932/18)):

III.

Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO). Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG). Der Senat merkt an, dass sich die amtsgerichtliche Entscheidung im Falle einer Verurteilung des Betroffenen in Tenor und Gründen auch zur Schuldform zu verhalten hat.

Keiner der vielen "Gäste" hatte bisher danach gefragt, wie es weitergeht in diesem Bußgeldverfahren, das ja logischer Weise noch Schule machen könnte.  Einige "Gäste" befassen sich offenbar lieber mit der Grammatik. Wo ist darin deren Logik geblieben?

Wenn das noch so usus wird, dann könnte man erwarten, daß sich der BGH oder das BVerfG damit noch mal beschäftigt, denn ansonsten muß die Justiz sich m.E. noch übermäßig mit selbst geschaffenen Sachverhalten weiter beschäftigen, die ja auch noch Geld und Arbeitszeit kosten.

 

Es ist schon ernüchternd, dass zu einer doch wohl einfachen gesetzlich geregelten Rechts- oder Verfahrensfrage in einem juristischen Blog keine wirkliche Klärung erzielen lässt. Letztlich gibt es nur 4 Möglichkeiten:

1.Das OLG hat das Gesetz richtig angewandt und gut ist.

2. Das OLG hat das Gesetz falsch angewandt. Die Entscheidung ist ein Rechtsfehler.

3. Das OLG hat das Gesetz richtig angewandt, das Ergebnis ist aber unbefriedigend.

4. Das Gesetz ist unklar und kann in beide Richtungen ausgelegt werden.

In den ersten beiden Fällen wäre am Gesetz nichts auszusetzen. In den beiden letzten Fällen wäre dagegen die Überarbeitung des Gesetzes durch den Gesetzgeber zu fordern, statt das OLG für die Einhaltung der Vorschrift zu schelten. Im 1. Fall und ggf. 3. und 4. Fall sollten die Gerichte ihre Aktenorganisation überprüfen und den gesetzlichen Anforderungen anpassen. Im 2. Fall sollte die OLG-Entscheidung durch Rechtswissenschaftler aufbereitet und für die Rechtsprechung zur Disposition gestellt werden. Da es sich hier um recht einfache Sachfragen handelt, wäre ein Unvermögen zur eindeutigen Klärung ein ziemlich peinliches Eingeständnis. Die hier von Einigen fokussierten Befindlichkeiten am Gesetz vorbei, sind dagegen einfach überflüssig.   

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Rechtsfragen zu Gehörrechtsverletzungen sind nur sehr selten einfach. Sie zu klären ist auch nicht Aufgabe eines juristischen Blogs - wenn auch nicht unmöglich. Doch war es die Aufgabe des Rechtsbeschwerdegerichts, das sich seine Aufgabe sehr einfach gemacht hatte. Das OLG Bamberg hatte sich zur Begründung der Verletzung rechtlichen Gehörs darauf beschränkt, auf die Rechtsprechung des Senats hinsichtlich "Eingangs eines Entbindungsantrags" zu verweisen mit dem Nachsatz: "kann in der vorliegenden Fallkonstellation nicht anders gehandhabt werden". Das ist zu dünn und wenig überzeugend, auch wenn man die Ausführungen in den verwiesenen Senatsentscheidungen mitberücksichtigt.

Die nach dem Entbindungsantrag eingehenden Erklärungen des Betroffenen sind dem Wortlaut des § 74 I 2 OWiG nach von der Einführung in die HV nicht ausgeschlossen. Legt man diese Beweiserhebungsnorm, die auch den Umfang des Gehörrechts regelt, systematisch aus, dann muss auch der Umfang des Gehörrechts aus anderen Normen mit in die Auslegung einfließen. Der Umfang des rechtlichen Gehörs wird in  § 73 II OWiG durch Erklärungen des Betroffenen bestimmt, die dem Gericht bei der Entscheidung über den Entbindungsantrag bekannt sind. "Vernehmungen [...] und [...] Erklärungen" des von der Verpflichtung zum Erscheinen entbundenen Betroffenen, die nach § 74 I 2 OWiG in die HV einzuführen sind und den Umfang des rechtlichen Gehörs prägen, sind dem Gericht schon zu diesem Zeitpunkt bekannt. Müssen sie ja auch.

Angenommen, der Betroffene stellt einen Entbindungsantrag und erklärt, dass er gefahren sei, sich aber weiter zur Sache nicht äußern werde. Er behalte sich aber vor, sein Einlassungsverhalten zu ändern und seine bisherige Einlassung schriftlich zu ergänzen. Sein Antrag wird mit der Begründung abgelehnt, dass die Einlassung des Betroffenen offensichtlich nicht abschließend, mit weiteren Erklärungen zu rechnen sei und das Gericht bei der Entscheidung über den Entbindungsantrag nicht erkennen kann, welche Erklärungen des Betroffenen in die HV eingeführt werden müssen. Rechtsfehlerhaft? Möglicherweise unter Verletzung des rechtlichen Gehörs?

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Mir scheint immer noch die Nebenbemerkung des OLG zur Gerichtsorganisation die rechtliche Bewertung hier zu dominieren.

Ein wesentlicher Punkt der OLG-Begründung unter 1.a ist doch, dass das AG von Urteilsgründen abgesehen hat, obwohl fristgerecht Rechtsbeschwerde eingelegt wurde und der Betroffene in der HV nicht vom Verteidiger vertreten wurde (§ 77b).

"Die Frist für die Einlegung der Rechtsbeschwerde beginnt mit der Zustellung ... des Urteils, wenn es in Abwesenheit des Beschwerdeführers verkündet und dieser dabei auch nicht durch einen ... Verteidiger vertreten worden ist." (§79 IV)

Die Zulassung der Rechtsbeschwerde erfolgte nach § 80 I Nr.2 wegen Versagung des rechtlichen Gehörs. Das rechtsfehlerhafte Absehen von Urteilsgründen durch das AG wäre im Zweifel mit dem vollständigen Übergehen von Einlassungen gleichzusetzen. Das OLG hat das anhand des Sitzungsprotokolls konkret geprüft und das Übergehen der zulässigen und nicht verfristeten Einlassung festgestellt. Wie sollte auch die Rechtsbeschwerde ohne Vorliegen von Urteilsgründen vom Betroffenen begründet werden?     

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Sie schreiben:

 "Das rechtsfehlerhafte Absehen von Urteilsgründen durch das AG wäre im Zweifel mit dem vollständigen Übergehen von Einlassungen gleichzusetzen."

Ja, der Fall dürfte aber wohl so liegen, dass es eben keine Erklärungen des Betroffenen zur Sacher gab. Hätte der Betroffene in seinem Entbindungsantrag oder davor Erklärungen abgegeben, die in die HV hätten eingeführt werden müssen, dann wäre es auf die schriftliche Erklärung nicht angekommen, die 20 Minuten vor der HV eingegangen ist. Es wäre dann also überflüssig zu prüfen, ob nicht auch(!) durch ihre Nichtbeachtung das rechtliche Gehör verletzt wurde. Denn das rechtliche Gehör wäre schon bezüglich der anderen Erklärungen verletzt.

Die Erklärung des Betroffenen, um die es hier geht, war wohl die einzigen, die er zur Sache abgegeben hatte.

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Nun kenne ich den Ablauf nach der HV bis zum Urteil nicht, nur aus dem Zivilrecht. Dort gibt es nach der Verhandlung bei einem Urteil einen Verkündungstermin, bei einem Beschluss zum Beispiel den Dezernatsweg. Trifft beim Gericht bis zum Tag des Urteils oder Beschlusses noch eine statthafte und nicht verfristete Einlassung eines Beteiligten ein, die jedoch in der Entscheidung nicht berücksichtigt wird, dann wird das Anhörungsrecht verletzt. Dies kann erst recht bei einer Wiedereinsetzung passieren, so dass das Gericht auf die entsprechende Rüge hin die späte oder verspätete Einlassung im Abhilfeverfahren prüfen muss, auch wenn die Entscheidung schon einmal getroffen war. Im OWiG ist offenbar statt der Rüge die Revision das entsprechende Rechtsmittel, so dass der Amtsrichter die Zeit zwischen HV, Verkündung des Urteil und Fertigung der Urteilsgründe hat, um die Akte auf unbeachtete Einlassungen zu prüfen. Nimmt er eine nunmehr ja vorliegende Einlassung wegen Verfristung oder Verspätung (?) inhaltlich nicht zur Kenntnis, kann er statt einer expliziten Feststellung nicht so tun, als gebe es gar keine Einlassung. Wenn im Sitzungsprotokoll steht, dass zu Beginn der HV keine Einlassung vorlag, obwohl eine Einlassung mit Gerichtseingang vor Beginn der HV in der Akte liegt, müsste die Nichtbeachtung dieser Einlassung doch wenigstens im Urteil formalrechtlich kurz begründet werden. Andernfalls gab es keine formalrechtlichen Gründe der Nichtbeachtung, sondern die materiell-rechtliche Gehörsverletzung.

So verstehe ich auch "Schönen Dank auch!". Denn würde der formalrechtliche Ausschluss rechtens sein, dann könnte der Amtsrichter wegen der Zurückverweisung diese Begründung nun ja wohl nachtragen, oder?.       

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Sie schreiben:
"Trifft beim Gericht bis zum Tag des Urteils oder Beschlusses noch eine statthafte und nicht verfristete Einlassung eines Beteiligten ein, die jedoch in der Entscheidung nicht berücksichtigt wird, dann wird das Anhörungsrecht verletzt."

Das ist insoweit richtig, dass es im Zivilprozess Einlassungsfristen gibt. Sie werden durch das Gericht genau bestimmt. Ich habe aber noch nie eine Festsetzung erlebt, die am Tag des Verkündungstermins (VT) geendet hätte. Geht auch im Regelfall gar nicht. Denn im Regelfall sind die Fristen so bestimmt, dass sie mit dem Ablauf eines bestimmten Tages enden.

Auch im OWi-Verfahren gibt es die Möglichkeit:

"Zur Vorbereitung der Hauptverhandlung kann das Gericht auch dem Betroffenen Gelegenheit geben, sich innerhalb einer zu bestimmenden Frist dazu zu äußern, ob und welche Tatsachen und Beweismittel er zu seiner Entlastung vorbringen will" (§ 71 II 2 OWiG).

Säumnis einer Einlassungsfrist im Zivilprozess hat Ausschluss zur Folge. Ob an die Fristbestimmung des § 71 II 2 OWiG dieselbe Rechtsfolge geknüpft ist, darf man mit Fragezeichen versehen. Siehe Beitrag von Carsten Krumm "OWi-Verfahren: Beweisantragsablehnung wegen verspäteten Beweisantrags ist wohl nicht mehr möglich".

https://community.beck.de/2015/03/26/owi-verfahren-beweisantragsablehnung-wegen-versp-teten-beweisantrags-ist-wohl-nicht-mehr-m-glich

Es kann aber auch nicht bedeuten, dass die nach § 71 II 2 OWiG vom Gericht bestimmte Frist völlig ohne Bedeutung ist. Jedenfalls ist im vorliegenden Fall von einer Fristbestimmung nach § 71 II 2 OWiG keine Rede. Gleichwohl könnte man den schon oben genannten Gedanken mit in die Auslegung einfließen lassen, dass schriftliche Einlassungsfristen im Regelfall mit dem Ablauf eines bestimmten Tages enden. Weil es aber nicht mit dem Ablauf des Tages der HV sein kann, enden sie spätestens mit dem Ablauf des Vortages.

Sie schreiben:
"So verstehe ich auch "Schönen Dank auch!". Denn würde der formalrechtliche Ausschluss rechtens sein, dann könnte der Amtsrichter wegen der Zurückverweisung diese Begründung nun ja wohl nachtragen, oder?."

Nach der Zurückverweisung ist wieder alles möglich. Es sei denn, die Verjährung ist eingetreten. Und genau das will man ja auch mit der ganzen Trickserei erreichen.

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Ergänzend noch dazu. Sie schreiben auch:
"Im OWiG ist offenbar statt der Rüge die Revision das entsprechende Rechtsmittel, so dass der Amtsrichter die Zeit zwischen HV, Verkündung des Urteil und Fertigung der Urteilsgründe hat, um die Akte auf unbeachtete Einlassungen zu prüfen."

Nicht die Revision, sondern die Rechtsbeschwerde bzw. deren Zulassung, die Sie selbst schon oben richtig genannt haben. Ist aber insoweit egal. Denn beide Rechtsmittel sind sehr ähnlich. Die Rüge als Anhörungsrüge kommt nur bei unanfechtbaren Endentscheidungen in Betracht. Wenn Sie bei diesem Satz Strate und den Fall Sabolic vor Augen hatten, dann übersehen Sie das Wesentliche: Dort war die sofortige Beschwerde das zulässige Rechtsmittel mit der gesetzlich geregelten Abhilfemöglichkeit des erkennenden Gerichts. Daran fehlt es aber in der Rechtsbeschwerde bzw. im Zulassungsverfahren.

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Verspätet vielen Dank für die Berichtigungen!

Der Vergleich mit dem Zivilrecht hinkt auch schon deshalb, weil Einlassungsfristen und der Ausschluss von Vortrag im Zivilrecht wohl insbesondere das Recht der Gegenpartei auf rechtliches Gehör schützt und nicht die "Rechte" des Gerichts oder Richters im Verfahren. Denn jede Partei im Zivilprozess muss sich darauf verlassen können, nicht urplötzlich in letzter Minute von Vortrag oder Beweisen überrascht zu werden und dann ohne Verteidigungsmöglichkeit dazustehen.

Im OWi-Verfahren gibt es dagegen nur eine Partei: den Betroffenen. Wenn für OWi-Verfahren die in Strafverfahren obligatorische Mündlichkeit zur Vereinfachung (?) gesetzlich eingeschränkt wurde, dann kann diese Einschränkung aber nicht zum Nachteil des Betroffenen ausgelegt werden. Also müssten die Betroffenenrechte als unterste Schranke denen eines Angeklagten im Strafverfahren entsprechen, ohne dass dabei die Vereinfachung eine Rolle spielt. So gesehen, müsste ein Owi-Betroffener mindestens alles das auch schriftlich tun und lassen können, was der Angeklagte im Strafverfahren mündlich zulässigerweise tun und lassen darf. Vielleicht kommt man über diesen Weg zur gesetzlichen Lösung, die nicht zwangsweise ein gutes Mittel gegen Trickserei sein muss. Es wäre dann die Aufgabe der Justiz, den Gesetzgeber auf die Mängel hinzuweisen und nicht die Gesetze selbst in Urteile zu "schreiben".

Ihr Auslegungsgedanke, bei nicht explizit bestimmter Einlassungsfrist diese implizit auf den Ablauf des Vortages der HV festzulegen, könnte Trickserei sicherlich unterbinden. Nur warum legte oder legt der Gesetzgeber das nicht im Gesetz fest, so dass sich Betroffene daran wissentlich orientieren können? Vielleicht gibt es ja andere Fallgestaltungen, in denen eine solche fixe Ausschlussfrist tatsächlich rechtlich unerwünscht wäre. Dann müsste eine Auslegung nicht in Richtung einer Bestimmung einer impliziten Ausschlussfrist gehen, sondern z.B. die Gründe oder Motive einer späten oder verspäteten Einlassung fokussieren, was zumindest deren Kenntnisnahme erfordert. In diesem Sinne könnte das Übergehen der Existenz einer späten und nicht offensichtlich rechtsmissbräuchlichen Einlassung immer eine Gehörsverletzung durch das Gericht bedeuten. So argumentiert wohl auch das OLG.

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Das OLG argumentiert eher grobschlächtig: "Im Falle der Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens nach § 74 I OWiG gebietet es die Aufklärungs- bzw. Fürsorgepflicht, dass der Richter sich zuvor bei seiner Geschäftsstelle informiert. Dies entspricht st.Rspr. des Senats für den Fall des Eingangs eines Entbindungsantrags nach §§ 73 II, 74 II OWiG [...] und kann in der vorliegenden Fallkonstellation nicht anders gehandhabt werden".

Das im Rechtsstaatsprinzip enthaltene und verfassungsrechtlich geschützte Recht auf ein faires Verfahren legt Gerichten prozessuale Fürsorgepflichten auf. Der Umfang der gerichtlichen Fürsorgepflicht ist in der Regel in den Prozessordnungen einfachgesetzlich konkretisiert, so z.B. die Hinweispflichten. Es gibt aber auch ungeschriebene Tatbestände der gerichtlichen Fürsorgepflicht. So ist bei einem nicht erschienenen Betroffenen eine Wartezeit von 15 Minuten einzuhalten. Diese Karenzzeit gilt nicht nur im OWi-Verfahren, sie gilt in allen Verfahren. Sie ist so gefestigt und so selbstverständlich, dass sie die Anforderungen an das Gewohnheitsrecht durchaus erfüllen dürfte.

Aus dieser c.t.-Karenzzeit obergerichtlich entwickelt wurde die Fürsorgepflicht, auf der Geschäftsstelle nachzufragen, ob Entschuldigungsgründe vorgebracht wurden, z.B. ein ärztliches Attest eingereicht wurde. Vielleicht hatte man sich gedacht: wenn der Richter schon 15 Minuten warten muss, dann soll er in der Zeit auch verpflichtet sein, etwas sinnvolles zu tun. Ich sehe die Rechtsprechung der OLGs dazu sehr kritisch. Denn sie führt eben zu der problematischen Überspannung der gerichtlichen Fürsorgepflicht: Wenn der Richter auf der Geschäftsstelle nachfragen muss, ob nicht ein Attest eingegangen sei, dann muss er auch nachfragen, ob nicht ein Entbindungsantrag eingegangen sei. Und wenn er das tun muss, dann könne nichts anderes für eine schriftliche Einlassung des Betroffenen zur Sache gelten. So argumentiert das OLG Bamberg.

Wenn man schon die Nachfragepflicht des Richters nach Eingang eines ärztlichen Attests mit dem Eingang eines Entbindungsantrags gleichsetzen will, dann muss man aber auch erklären, auf welche Weise dann die Entbindungsentscheidung wirksam werden soll - gegenüber einem Abwesenden und ohne Außenwirkung. Dazu wird aber nichts ausgeführt.

Der Nachfragepflicht nach dem Eingang des Attest und des Entbindungsantrags liegt auch die Tatsache zugrunde, dass der Richter den Grund für das Nichterscheinen des Betroffenen nicht kennt und aufzuklären hat. Bei einem von der Pflicht zum Erscheinen entbundenen Betroffenen kennt er den Grund. Er weiß nur nicht, dass der Betroffene, der im Entbindungsantrag noch erklärt hatte, sich zur Sache nicht mehr äußern zu wollen, sich das inzwischen - kurz vor HV und auf Schriftlichkeit beschränkt - anders überlegt hat. Dem Richter insoweit eine Aufklärungs- bzw. Fürsorgepflicht aufzuerlegen, das ist abenteuerlich.

Erscheint es wirklich unfair mit Blick auf das Recht auf ein faires Verfahren, wenn der Richter unter diesen Umständen nicht auf der Geschäftsstelle nachfragt und dem Betroffenen völlig offen steht, in der HV zu erscheinen, wenn er sein Einlassungsverhalten geändert hat?

"Die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von Verfassungs wegen geboten ist, kann sich aber nicht nur am Interesse der Rechtsuchenden an einer möglichst weit gehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern muss auch berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss." (BVerfG - 1 BvR 2147/00)

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2001/01/rk20010103_1bvr214700.html

Mit der Änderung der §§ 73, 74 OWiG mit der Einführung der Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen, sollte nach dem Willen des Gesetzgebers die Justiz entlastet werden. Es ist aber das Gegenteil der Fall, wenn der Richter in allen Verfahren, in denen der Betroffene in der HV nicht erscheint, den Wachtmeistern mit einem riesigen Haufen an Eingangspost nachlaufen muss.

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Schade - die zwischenzeitliche Erwägung, dass mit Blick auf den Rechtsstaat mittlerweile das OVG Münster sich zu Fragen des erforderlichen Reaktionstempos geäußert hat, fehlt hier plötzlich. Dabei ist besonders beachtenswert, dass das OVG Münster mittlerweile in Sekunden zählt.

In praxi weitverbreitet ist das Zählen in Minuten.So Fahrpläne,Bus,Bahn,Flugzeuge. Mir ist klar, dass im Sport auch in Hundertstel-Sekunden gemessen wird. Die Steigerung, auf dieses Maß zu gehen, bleibt ja eventuell den oberstgerichtlichen Weistumsverfassern vorbehalten. Aussagen wie "sehenden Auges", "grob rechtswidrig" usw. für eine Situation, in der innerhalb ca. 18 Minuten ( "kurz vor neun" - 9:14 Uhr) hätte richtigerweise a) Sachverhalt klar erfasst  b) Rechtslage geprüft c) Entscheidung getroffen und d ) -vor 9:14 Uhr - hätte umgesetzt werden müssen, via Bundespolizei und Funk nach Tunesien - scheint mir starker Tobak. Als Rechtsanwalt hätte ich mir auch häufiger auf eigene Eilanträge hin solches Entscheidungstempo gewünscht. Die Reaktion des VG Gelsenkirchen auf den tatsächlich gestellten ( 12.7.,  17:37 Uhr) brauchte übrigens im Minimum 49.980 Sekunden, oder: 13 Stunden und 53 Minuten.  Die - auch sprüchebegründend befeuerte - Debatte scheint mir einen etwas zu stark einseitigen Drall zu haben. 

In praxi weitverbreitet ist das Zählen in Minuten.

"In praxi weitverbreitet" ist so gut wie alles, je nach dem, was man zur prüfen hat oder ausdrücken will, sogar "logische Sekunden" wurden bekanntlich schon gesichtet. Jedenfalls ist "das Zählen in Sekunden", das Sie dem OVG Münster aus irgendwelchen clandestinen Gründen vorwerfen, völlig in Ordnung. Ihre Argumentation, so man das überhaupt so nennen will, ist wieder einmal völlig undurchschaubar und überzeugt vielleicht wieder einmal Sie persönlich, aber niemanden sonst.

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Nun, man kann im Niveau natürlich nicht beliebig tief gehen. Aber hier ist ua. Thema die Frage, inwieweit binnenorganisatorische Grenzen eines Gerichts von rechtlichem Belang sind. Hier soll es die Probematik sein, binnen 20 Minuten in einem großen Gericht(-sgebäude)  den richtigen Adressate zu ermitteln und ihm das Fax zukommen zu lassen. Ersichtlich stellt sich parallel im Sami-Fall genau eine gleiche Problematik: es hängt dort (auch) von der Gerichtsorganisation ab, dass ein um 17:37 Uhr eingegangener EIL(!!!)antrag erst am Folgetag ab frühestens 7:30 Uhr in Betracht gezogen wird, von "bearbeitet"  gar nicht zu reden. Es mag jemand als Teil des "Rechtsstaats" ( zum Fall Sami werden ja die höchsten Güter unserer Verfassung herangezogen!) das Pfadfindergebot heranziehen: "Allzeit bereit!". Dann sollte derselbe nicht einerseits Nachsicht üben , wenn nicht binnen 20 Minuten im Gebäude ein Fax ans Ziel  gebracht wird, andererseits aber begehren, dass nicht etwa in einem Gebäude, sondern umsetzbar äußerstenfalls durch Kontakt mit einer Bundespolizei und dann wieder mit Wirkung exterritorial durch Weisung an ein Flugzeug und Beamte darin flugs und flugsestens grundstürzendabändernde  Weisungen erteilt und umgesetzt werden. Vor allem, wer einen EILantrag 13,5 Stunden lang unbeachtet lässt, sollte vorsichtig damit sein, anderen Zögerlichkeit vorzuwerfen. Selbstredend weiß ich um die Verehrung  des Heiligen St. Dienstschluss. Gelsenkirchen liegt im alten katholischen kurkölnischen Vest Recklinghausen, jetzt Bistum Münster. Wer dann aber allzu stark von "Grob rechtswidrig" oder "sehenden Auges" verstoßen redet oder schreibt, sollte bedenken, dass genau die Möglichkeit eines genau solchen EILantrages schriftsätzlich gerade noch am 12. Juli 2018 vorgetragen worden ist, schriftsätzlich. Und dass trotz in der Tat mehrfachen Bohrens KEINE Erklärung zur Unterlassung einer Abschiebung abgegeben worden ist. - Es wird erwogen, das Gericht müsse das nachträglich bekanntgewordene Fax auch noch nach dem Verhandlungstermin berücksichtigen. Sollte man das bejahen - könnte es dann sein, dass bei einer Gesamtwürdigung nicht gerade einseitig zu Lasten einer Behörde von "grob" rechtswidrig und "sehenden Auges" zu werten wäre, wenn man ebenso nachträglich erkennt, dass bei sich selbst, bei Gericht, seit 12.7. 17:37 Uhr ein EILantrag vorlag? Allerdings hat der Heilige St. Dienstschluss ja auch den Abgang des um 19:20 Uhr niedergelegten Beschlusses verhindert. Bei ökumenischer Betrachtung könnte man den Eindruck gewinnen, dass Verehrung von Heiligen, vor allem dieses Heiligen, auch ungünstige Folgen haben kann.

Ihr Plädoyer für die völlig undeutsche Schlafmützigkeit in allen Ehren; die Gerichte sehen das anders, und das ist gut so. Und was hat ihr Siesta-Plädoyer jetzt mit "Zählen in Sekunden" zu tun?

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Vielleicht eine Sorge davor, in welche Richtung eventuell das OVG MÜnster anderen Instanzen außerhalb der Gerichte noch  präziser vorzurechnen gedenken könnte, wie flott sie vorzugehen haben? Andererseits könnte die Sekundenangabe etwa für die Faxübermittlungen auch einfach nur schlichte Übernahme der Fakten sein, wie sie sich ergeben haben. Erheblich insoweit, als Empfänger sie ja auch erst einmal lesen muss. Ob es überzeugt, dass - wie anscheinend bei  manchen "modernen" "Pädagogiken" - größere Gesamttexte zu anspruchsvoll seien und daher nur exemplarische Kurzauszüge zur Kenntnis  zu nehmen sind, ist eine andere Frage. Sie stellt sich, wenn es reichen soll, bis S. 2 ( von 22) zu lesen - da stünde ja der Tenor.  Eventuell soll auch eruiert werden, wie lange ein Empfänger bis S.2 benötigt, um einer zeitabhängigen Handlungspflicht zu unterliegen. Es kann sein, dass es dabei auf Sekunden ankommen soll. Letztlich wird das nur das OVG Münster in der weiteren Judikatur beantworten können. Dieses ist es ja, das mit der Sekundenzählung vorgelegt hat. Vielleicht sind die "Grenzendes Rechtsstaats" ja auch dahingehend - zeitlich - auszulegen bzw. auszutesten, dass trotz Art. 102 GG etwa US-Erfahrungen fruchtbar gemacht werden, bis wann noch eine angerordnete Vollziehung einer Strafe widerrufen werden kann, evtl. per Telephon im Vollstreckungsraum. Da kann es wirklich um Sekunden gehen. Denn also wird mit dem Empfinden der Bevölkerung und Bürgerschaft konform zu verlangen sein, dass etwa bei Abschiebungen verantwortliche Entscheider permanent bis zum "Vollzug" nichts anderes tun, als darauf zu warten, eventuell sofort in Sekundenabständen judikatorisch gefundene neue Weistümer umzusetzen. 9: 14 Uhr am 13.7.2018 wird sich gewiss detailliert in den Verlauf seiner 60 Sekunden zergliedern lassen. Allerdings zeigt der Sport, dass man von solch primitiver Vorgehensweise sich auch entfernen und abheben kann - da zählen derzeit wohl hundertstel Sekunden.  Aber wie gesagt - wir (??) , nun ja, manche reden vom "Rechtsstaat", und der Austestbarkeit seiner Grenzen. Wie belegt, soll es dabei auf (bei grober bisheriger Zählung) Sekunden ankommen. Das werden die Damen und Herren des Parlamentarischen Rates 1948/49 vermutlich auch so gesehen haben.

Ich kann immer noch nicht erkennen, was der Fall Sami A. und der hiesige Fall gemein haben sollen. Dort geht es um effektiven Rechtsschutz gegen eine behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung. Hier geht es um die gerichtliche Fürsorgepflicht und das rechtliche Gehör, mithin um Aspekte eines fairen Verfahrens.

Zwar sind die Gerichte in beiden Fällen verschaukelt worden, dort von der Behörde und hier von dem Betroffenen, aber eben in einem anderen Zusammenhang.

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Sehr geehrter Herr Kolos, die Würdigung im zweiten Absatz jedenfalls bezüglich der Behörden teile ich nicht. Den von Ihnen im ersten Absatz genannten Schlussfragen gehen jeweils voraus Fragen zur Rechtspflicht zum Handeln von Behörden in gewisser begrenzter Zeit. Seltsamer Zufall - es geht in beiden Fällen um jeweils ca. 20 Minuten.

"Der Umfang der gerichtlichen Fürsorgepflicht ist in der Regel in den Prozessordnungen einfachgesetzlich konkretisiert, so z.B. die Hinweispflichten. Es gibt aber auch ungeschriebene Tatbestände der gerichtlichen Fürsorgepflicht. So ist bei einem nicht erschienenen Betroffenen eine Wartezeit von 15 Minuten einzuhalten. Diese Karenzzeit gilt nicht nur im OWi-Verfahren, sie gilt in allen Verfahren. Sie ist so gefestigt und so selbstverständlich, dass sie die Anforderungen an das Gewohnheitsrecht durchaus erfüllen dürfte."

Sehr geehrter Herr Kolos, damit sprechen Sie wichtige Aspekte an. Die Hinweispflicht hat laut § 74 (3) OWiG in Form einer schriftlichen Belehrung in der Ladung zu erfolgen. Der Wortlaut dieser Belehrung muss so konkret sein, dass der Betroffene mindestens mit normalem Verstand und ohne jede Gerichtserfahrungen geltende Fristen, seine Verfahrensrechte, insbesondere zulässige und unzulässige Einwendungen konkret erkennen kann. Diese Belehrung muss den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Wie diese Belehrung in der Ladung tatsächlich lautet, ist mir nicht bekannt.

Aber das BMJV erklärt in einer Schrift zum OWi-Recht auf Seite 5 im 4. Absatz:

Das Gericht muss sich mit einer Stellungnahme des Betroffenen auseinandersetzen und prüfen, ob diese die Erhebung von (weiteren) Beweisen veranlasst. Ist der Betroffene in der Hauptverhandlung nicht erschienen, nachdem er von der Anwesenheitspflicht entbunden worden ist, und hat er sich bereits vor der Verhandlung mündlich oder schriftlich geäußert, teilt das Gericht den wesentlichen Inhalt dieser schriftlichen oder protokollierten Äußerungen in der Hauptverhandlung mit oder verliest sie (§ 74 Absatz 1 Satz 2 OWiG).

  Für Auslegungen oder ein Gewohnheitsrecht, die die Frist "vor der Verhandlung" auf "vor der Entbindung zur Anwesenheitspflicht" setzt, sehe ich da gar keinen Spielraum. Auch für "üblich" gehaltene Verzögerungen des Dokumentenlaufs in der Gerichtsorganisation können nicht der Maßstab sein. Damit hatte sich hier das OLG Bamberg ausführlicher befasst:

Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass dem Betroffenen Gelegenheit gegeben werden muss, sich dem Gericht gegenüber zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen; das Gericht hat diese Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. KK-OWiG/Steindorf, 3. Aufl., § 80 Rn 41 m.w.N.). Grundsätzlich gehört dazu jede Äußerung des Betroffenen, die vor Erlass der Entscheidung bei Gericht eingeht.

  "Grundsätzlich gehört dazu jede Äußerung des Betroffenen, die vor Erlass der Entscheidung bei Gericht eingeht."

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Noch einmal zu der Schlüsselstelle der Begründung des OLG Bamberg und was das OLG Hamm von dieser Rechtsprechung hält:

OLG Bamberg: "Im Falle der Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens nach § 74 I OWiG gebietet es die Aufklärungs- bzw. Fürsorgepflicht, dass der Richter sich zuvor bei seiner Geschäftsstelle informiert. Dies entspricht st.Rspr. des Senats für den Fall des Eingangs eines Entbindungsantrags nach §§ 73 II, 74 II OWiG [...] und kann in der vorliegenden Fallkonstellation nicht anders gehandhabt werden".

OLG Hamm: "Diese Ansicht erscheint lebensfremd, sie entspricht nicht der Realität des Gerichtsalltags." (Beschl. v. 22.06.2011 - III-5 RBs 53/11, Rn. 18)

https://www.justiz.nrw.de/nrwe/olgs/hamm/j2011/III_5_RBs_53_11beschluss20110622.html

Man könnte das sicher auch ganz anders ausdrücken. Aber mit Rücksicht auf die gebotene Zurückhaltung der Gerichte, ist das schon harter Tobak.

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Sehr geehrter Herr Kolos,

das stimmt sicherlich, zumal das OLG Hamm in der eigenen Sache aus anderen Gründen der Rechtsbeschwerde stattgab. Offenbar ist das Ärgernis mit den späten OWi-Einwendungen sehr verbreitet. Keineswegs will ich die Trickserei, den Aufwand damit und das Ärgernis hier kleinreden. Dafür gibt es ganz sicher auch formal-rechtlich saubere Lösungen. Lassen Sie uns darüber nachdenken, statt durch "fortgeschrittene Auslegung" nun gerade im Bußgeldrecht weitere Räume für komplexe Selbstbeschäftigung von Juristen zu schaffen.

Auch die Ausführungen des OLG Hamm weisen nämlich darauf hin, dass die Richterschaft den geltenden Rechtsrahmen an ihre Bedürfnisse, Gewohnheiten im Gerichtsalltag und mitunter auch an persönliche Interessen anpasst. Ich finde, da sollten doch alle Alarmglocken läuten. Es gibt faktisch keine Legitimation für solche "Rechtsfortbildung" und einem daraus angeblich gewonnenen Gewohnheitsrecht. Aus der fehlenden Legitimation folgt die Unwirksamkeit der Rechtshandlung. Das ist rechtstheoretisch klar als Unrecht definiert und wird auch (rückwirkend) so bewertet werden. Irgendwann jedenfalls. Das sollte heutigen Juristen klar sein, egal wie berechtigt das Interesse im Einzelfall oder einem Sachgebiet ist. Ich verstehe nicht, warum man nach der unsäglichen deutschen Justizgeschichte des Unrechts vor und nach 1945 die bindenden demokratischen und rechtsstaatlichen Regeln der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatsgarantie wie ein Mantra in Gerichte tragen muss. Dass der Gesetzgeber möglicherweise auch schlechte oder unpraktische Gesetze bastelt, ist kein Grund für die Aufgabe einer wesentlichen Grundlage der Gesellschaftsorganisation.  

Ganz abgesehen von der meiner Meinung nach hier überzogenen "Auslegungslust" schätze ich Ihren juristischen Sachverstand und Ihr Urteilsvermögen sehr und bedanke mich für den fruchtbaren Austausch.

Mit freundlichen Grüßen

Lutz Lippke

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Sie haben auch mich wohl nicht verstanden.

OLG Hamm: "Diese Ansicht erscheint lebensfremd, sie entspricht nicht der Realität des Gerichtsalltags." (Beschl. v. 22.06.2011 - III-5 RBs 53/11, Rn. 18)

Sie mögen meine Ansicht zudem auch für "lebensfremd" halten. Aber das hier und von Ihnen Zitierte stellt nach dem geltenden Recht keine legale Rechtsprechung oder Auslegung von Gesetzen dar, sondern diese sogenannte "Rechtsfortbildung" oder "Rechtsansicht" ist illegal. "Recht und Gesetz" im Grundgesetz heißt nicht Deutungshoheit der Richter über das Gesetz. "Recht" ist nicht durch die sogenannte richterliche Rechtsfortbildung definiert. Diese Methoden des Rechtsmissbrauchs waren schon in der Vergangenheit für katastrophale politische Entwicklungen und Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich und sind es bis heute.

Ganz "lebensnah" an dem Gerichtsalltag: In einer ZPO-Sache wurden sehr rechtzeitige Anträge trotz regelmäßiger Erinnerung jahrelang nicht bearbeitet. Als das nach einem Personalwechsel dann doch auffiel, fehlten angeblich Nachweise und die Anträge wurden abgewiesen. Meine Beschwerde mit dem Hinweis darauf, dass die Nachweise in der Akte vorliegen, ging an das Beschwerdegericht. Dort wurde erneut das Fehlen der Nachweise behauptet, obwohl ich mich kurz zuvor mit Akteneinsicht auf der Geschäftsstelle von deren Existenz an der richtigen Stelle überzeugt hatte. Auch nach Rückkehr der Akte zum Ausgangsgericht befanden sich die Nachweise weiter an der richtigen Stelle der Akte. Es brauchte weitere Monate bis vom Gericht lapidar festgestellt wurde, dass die Nachweise nun in der Akte vorliegen. Insgesamt benötigten die Richter und Rechtspfleger fast 3 Jahre, um einmal in der Akte nachzusehen. Wenn das das "Normal" sein soll, verstehe ich sehr gut worum es geht. 

Es ist also kein intellektuelles Problem, sondern allein davon abhängig, ob man Demokratie und den Souverän ernst nimmt oder die Bürger letztlich doch hinters Licht führen will.

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Sehr geehrter Herr Lippke,

der springende Punkt ist, dass Sie über bestimmte Rechtsanwendung nachdenken wollen, die juristische Auslegung an sich aber ausdrücklich verpönen. Das geht nicht. Das ist so wie duschen ohne nass zu werden. Rechtsanwendung ohne Auslegung ist - gerade in Grenzfällen - schlicht nicht möglich. Auch Kritik darüber ist ohne Argumente der Auslegung nicht möglich. Natürlich müssen sie nicht explizit als solche bezeichnet werden, aber es ist keinesfalls schädlich.

Zum Recht gehört auch das Gewohnheitsrecht (das Sie ebenfalls verpönen), das an strenge Bedingungen geknüpft ist und in der Regel den Rang eines formellen Gesetzes hat. Nirgendwo steht geschrieben, dass der Richter 15 Minuten warten muss, wenn eine Partei zum Termin nicht erschienen ist, bevor er zu den Rechtsfolgen für Nichterscheinen greift. Gleichwohl ist das schon seit gefühlter Ewigkeit Gerichtspraxis und ständige Übung.

Ich habe diese gewohnheitsrechtliche Karenzzeit nur als ein Beispiel für die gerichtliche Fürsorgepflicht genannt. Damit wollte ich u.a. verdeutlichen, dass man die jeweiligen Fürsorgepflichten nicht einfach erfinden kann - wie das OLG Bamberg, sondern sie entweder im Gesetz oder eben gewohnheitsrechtlich konkretisiert sein sollten. Es ist auch verfehlt die gewohnheitsrechtliche Wartezeit von 15 Minuten dahingehend zu erweitern, "dass der Richter sich zuvor bei seiner Geschäftsstelle informiert" (OLG Bamberg). Denn es gibt insoweit weder Brauch noch Übung noch Gesetz. Und so ist auch die Kritik des OLG Hamm zu verstehen:

"Diese Ansicht erscheint lebensfremd, sie entspricht nicht der Realität des Gerichtsalltags." (Beschl. v. 22.06.2011 - III-5 RBs 53/11, Rn. 18)

Damit Sie das OLG Hamm besser verstehen können:

"Die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von Verfassungs wegen geboten ist, kann sich aber nicht nur am Interesse der Rechtsuchenden an einer möglichst weit gehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern muss auch berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss." (BVerfG - 1 BvR 2147/00)

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2001/01/rk20010103_1bvr214700.html

Der richterlichen Fürsorgepflicht steht die Funktionsfähigkeit der Justiz gegenüber. Wenn man also schon konkrete Fürsorgepflichten konstruiert, dann darf man dabei die Funktionsfähigkeit der Justiz nicht außer Acht lassen. Im Übrigen ist sie auch bei Gewährung rechtlichen Gehörs zu beachten, das keinesfalls grenzenlos ist.

Wenn der Angeklagte oder Betroffene z.B. in der HV randaliert, dann fliegt er raus, ohne Verletzung rechtlichen Gehörs rügen zu können - jedenfalls nicht mit Erfolg. Es gibt also auch eine Verwirkung dieses Rechts durch Vorverhalten. Es gibt auch den Verzicht auf rechtliches Gehör - so z.B. den Rechtsmittelverzicht. Da kann der Angeklagte oder der Betroffene dann auch nicht damit kommen: ich habe mir das jetzt aber anders überlegt und lege doch Rechtsmittel ein. Indem der Betroffene die Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen in der HV beantragt, verzichtet er auch auf sein Gehörrecht, jedenfalls einem bestimmten zeitlichen Umfang nach, indem er im Antrag erklärt, dass er sich zur Sache nicht mehr äußern möchte. Welchen Sinn macht es, ihm dann noch Fristen zur schriftlichen Stellungnahme zu setzen?

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Man kann auch im Knöllchen-Recht eine Analogie zur Klauselverwendung ziehen, wenn man seine Wunsch-Auslegung des Gesetzes überprüfen will. Im OWi-Recht ist die Justiz durch die geforderte pflichtgemäße Belehrung im Prinzip der Klauselverwender. Geht die Wunsch-Auslegung des Gesetzes nicht eindeutig aus dieser Belehrung hervor, geht dies im Zweifel zu Lasten der Justiz und nicht zu Lasten des Belehrten. Es ist egal, was das OLG Hamm für lebensfremd hält, wenn das "Lebensnahe" nicht eindeutig aus der Belehrung hervorgeht. Wer behauptet, man könne die Wunsch-Auslegung ("frühere" heißt "im Zweifel noch früher" oder "wie der Richter oder die Gerichtsorganisation gerade meint") nicht in Gesetz und Belehrung eindeutig formulieren, sollte sich noch einmal in der Hauptschule anmelden. Vielleicht gibt es da auch noch eine Einführung in Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung. 

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Hinweise auf andere Übertreibungen können m.E. keine rechtsmißbräuchliche Faxerei kurz vor einem Terminsbeginn in einer Bußgeldsache, die doch faktisch auf Verschleppungen in die Verjährung abzielen,  exkulpieren.

Solange es jedenfalls keine offiziellen Planstellen für Fax-Beauftragte mit Vertretungen an den Amtsgerichten gibt, die das Fax-Gerät ständig nicht nur nicht aus den Augen lassen, sondern auch noch alle technischen Störungen am Gerät sofort beseitigen können, ist es doch nicht auszuschließen, daß nicht alle abgesendeten Faxe auch empfangen werden können.

Das normale Personal in einer Geschäftsstelle jedenfalls kann das nicht leisten, ist auch mal bei Tisch, in einem Sozialraum, auf einer Toilette, bei der Staatsanwaltschaft usw., oder im Akten-Archiv, um irgendwelche Verfahrensakten noch herauszusuchen.

Wenn also einzelne Verteidiger nun meinen sollten, sie hätten mit ihren Fax-Tricksereien den Stein der Weisen gefunden, dann hätten m.E. auch Gerichte / Richter doch auch noch genügend Möglichkeiten, diese Fax-Tricksereien ins Leere laufen zu lassen.

Die Rechtsmissbräuchlichkeit der Faxerei muss festgestellt werden und ergibt sich nicht aus dem Umstand, ob irgendjemand gerade auf dem Örtchen oder sonstwie verhindert war. Im konkreten Fall ist klargestellt, dass das wortlose Übergehen der Einlassung bei der späteren Urteilsabsetzung und wohl auch der Verzicht auf Urteilsgründe bereits die Rechtsverletzung belegen. Die Diskussion um lebensfremde Laufzeiten von Dokumenten ist doch ein Randthema, liegt aber auch nicht im Ermessen der Gerichte. Mein Beispiel mit einer Wahrnehmungszeit von fast 3 Jahren war ein Realbeispiel und blieb trotz Rügen für die Verantwortlichen vollkommen folgenlos. Eine schöne Einladung zur Sorgfalt (Achtung Ironie!). Wenn Trickserei der Anwälte von Betroffenen mit dem Gesetz bei diesen Fällen so ausschließlich und offensichtlich ist, wie hier behauptet, dann ist der Gesetzgeber über die gegebenen Mittel und Wege zur Nachbesserung des Gesetzes aufzufordern. Dann kann das auch belehrt werden, was ja gesetzlich zwingend ist. Es gibt keinen rechtmäßigen Weg daran vorbei.

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"Das normale Personal in einer Geschäftsstelle jedenfalls kann das nicht leisten,"

Das kann auch der Geschäftsbetrieb nicht leisten. Die Geschäftsstelle wird mit großer Wahrscheinlichkeit die Fax-Eingänge nicht einzeln nach Eingang abarbeiten. Sie landen vielmehr auf dem Poststapel und werden zusammen mit anderen Eingängen abgearbeitet. Wenn die Akten im Umlauf sind und nicht auf der Geschäftsstelle - so wie hier beim Richter im Sitzungssaal, dann landet die Post in der Posteingangsmappe. Es ist in der Regel nicht möglich, dass die Geschäftsstelle mit einzelnen Eingängen den im Umlauf befindlichen Akten nachläuft. Die Eingänge werden in der Regel erst dann den Akten beigefügt, wenn sie wieder zurück auf der Geschäftsstelle sind. Das ist auch nicht anders zu machen, sonst würden die Geschäftsstellen mit ihrem Arbeitspensum nicht fertig werden und ersaufen. Das wäre dann die Katastrophe, dann läuft nichts mehr.

Jetzt zum Richter. Er wird vermutlich so um die 15 Sachen an einem Sitzungstag terminieren. Geschätzt in mehr als 10 davon wird der Betroffene nicht erscheinen. Er müsste sich dann also mehr als 10 Mal auf dem Weg zur Geschäftsstelle machen. Wenn er Glück hat, dann hat die Geschäftsstelle die Morgenpost schon abgearbeitet und kann einfach in der Posteingangsmappe nachsehen, ob Eingänge da sind. Wenn nicht, dann muss er selber in einem riesigen Posthaufen wühlen und nach Eingängen suchen, und das mehr als 10 Mal an einem Sitzungstag. Völlig illusorisch.

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O weh, Herr Kolos. Wenn Sie da mal nicht im OVG-präsidentiellen Sprechstil die "Grenzen des Rechtsstaats" austesten!!?? Der "Respekt vor staatlichen Autoritäten nimmt ab" - so die Bundesjustizministerin Dr. Barley FAZ 22. August 2018. Sollte sie meinen, dass zur staatlichen Autorität auch das "Gesetz" gehört - ja , die Messerstechereien haben sehr zugenommen, etwa in Chemnitz ein Toter und zwei Verletzte. Zu Berlin laut Bild die Vergewaltigung eines ca. 10 jährigen Jungen.usw.usw. usw. usw. usw. Kandel;in Bonn in Rheinauen Vergewaltigung einer Studentin. Und dann noch - O-Ton Dr. Barley a.a.O. - "Informationen bewusst vorenthalten". Ja, ja, die Tatverdächtigenprofiierung und kriminalpolitisch relevante Tätergruppenzuordnung - dem Volk ( dem demos der "Demokratie"  - sie steht ja neben dem "Rechtsstaat" ) wird da permanent so einiges "vorenthalten" -  so lange es dem mainstream so eben gelingt, zu vertuschen.  Mir kommt es so vor, als wären das für die Beurteilung des "Rechtsstaats" wesentlich bedeutsamere Probleme als das Tempo, mit dem ein Eingangsfax bei Gericht dem Richter zugeleitet wird.

Es ist auch nicht damit getan, dass der Richter den Eingang im Posthaufen suchen muss und ihn möglicherweise dort auch findet. Um den Betroffenen wirksam von der Erscheinenspflicht zu entbinden, muss der Richter dann einen Entbindungsbeschluss abfassen, der selbstverständlich mit Akten an die Geschäftsstelle zur weiteren Veranlassung gegeben werden muss. Sie veranlasst dann die Kanzlei mit dem Schreiben des Beschlusses. Dann gehen die Akten wieder zurück von der Kanzlei an die Geschäftsstelle. Sie fertigt den Beschluss aus und schickt ihn an den Betroffenen, indem sie Anschreiben nebst Ausfertigung des Beschlusses in das Postfach legt. Erst wenn der Beschluss den Geschäftsbereich des Gerichts verlässt kommt ihm Außenwirkung zu und erst dann ist er wirksam. Erst dann ist der Betroffene vom Erscheinen wirksam entbunden. Das alles soll in 20 Minuten möglich und von der gerichtlichen Fürsorgepflicht gedeckt sein? Das ist doch lächerlich.

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Herr Kolos, Sie beschreiben den offiziellen, langen Dienstweg, bei dem alles Handeln seinen nachprüfbaren und transparenten Niederschlag in den Gerichts-Akten ergeben sollte. Als Praktiker aber habe ich erfahren, daß irgendwann in grauer Vorzeit das Telephon (mit ph) mit einer Drahtverbindung, und später auch mobile Telephone ohne Drahtverbindung gebräuchlich wurden. In den Akten findet der Aktenleser aber gewöhnlich meistens nichts darüber, wenn der "kurze Dienstweg" mal auch noch beschritten wurde, aber er findet ja sehr oft die verräterische Angabe einer Telephon-Nummer "für Rücksprachen" in den Gerichts-Akten oder Gutachten usw.. Mit etwas kriminalistischer Akribie lassen sich dann auch aus den Gerichts-Akten solche Anrufe auch herleiten.

Und wir wissen alle inzwischen, daß der Vorsitzende Richter Otto Brixner im Fall Gustl Mollath vom Telephon auch Gebrauch machte.

Näheres dazu auch unter diesem Link:

https://www.heise.de/tp/features/Vertuschen-Wegsperren-Luegen-und-Betrue...

(Zitate daraus erspare ich mir und Ihnen, aber Herr Lippke wird das bestimmt mit einiger Genugtuung lesen.)

Sehr geehrter Herr Rudolphi, in der Tat ist das technische Hilfsmittel des Telephons seit einiger Zeit bekannt. In dem von Ihnen beigestellten heise-Bericht ging es angeblich beidem Richter-Anruf um eine Sachverhaltsinformation. Man kann sogar je nach Vertrauenslage telephonisch als bindernd betrachtete Verabredungen treffen. Wenn es allerdings um formalisiert fristenauslösende Faxeingaben geht, oder außenrechtsrelevant beabsichtigte Entscheidungen, sollte schon  Wahrung der Schriftform, soweit nicht ohnehin gesetzlich zwingend vorgesehen, maßgeblich sein. Und richtigerweise sollten auch Telephonate behrdlichund gerichtlich inden Akten vermerkt werden.

Das mit dem Telefon ist quatsch. Aber wenn man schon über Alternativen nachdenken möchte, dann könnte man an die Verkündung im Termin denken. Ich weiß aber nicht, ob das wirklich geht: in der HV über einen schriftlichen Antrag, der außerhalb der HV gestellt wurde, zu beschließen und zu verkünden. Aus dem Bauch heraus würde ich sagen: das geht nicht (Grundsatz der Mündlichkeit). Carsten Krumm wird das aber sicher besser wissen.

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Mein Einwurf war auch so zu verstehen, daß ein Verteidiger auf ein Fax auch noch per Telephon vor dem Termin hinweisen kann, um es im Termin nicht unberücksichtigt zu lassen aus den bekannten Zeitgründen des normalen Geschäftsbetriebs.

Daß Richter während einer Verhandlung mit ihrem Geschäftszimmer ebenfalls mal telephonieren, ist aber auch nicht ungewöhnlich.

..... mit MitarbeiterInnen in ihrem Geschäftszimmer .....

(gendergerecht formuliert)

Ok. Was vermuten Sie, wie weit so ein Telefonat mit der Geschäftsstelleden den Richter  in der Regel bringt?

Gibt es Eingänge in der Sache ....? - Weiß nicht. Hab die Post noch nicht gemacht. - Könnten Sie vielleicht mal in der Post nachsehen? - Hab dafür keine Zeit. - Ich werde mich beim Geschäftsleiter beschweren. - Tun Sie das.

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Es dürfte immer ein kleiner Ermessenspielraum vorhanden sein, ob Telephonate (bzw. dann Faxe) berücksichtigt werden, auch für eine kurze Sitzungsunterbrechung oder eine Vertagung. Persönliche Bekanntschaften machen doch das Leben leichter, das zu leugnen, wäre doch auch weltfremd.

Ja, klar kann es auch anders laufen. Ich wollte ja nur den Regelbetrieb darstellen, den Indikator für die Funktionsfähigkeit der Justiz. Im Übrigen helfen auch das Telefon und die beste und freundlichste Geschäftsstelle nicht, wenn es um die Zeit geht, die erforderlich ist, um einen Entbindungsbeschluss zu verfassen, auszufertigen und mit Außenwirkung zu versehen, damit er wirksam ist. Denn auch das ist zu beachten, wenn es um die Frage geht, wann ein Entbindungsantrag noch rechtzeitig gestellt ist. Es sei denn - wie gesagt - man könnte ihn in der HV verkünden. Aber ich bezweifle, ob das geht. Schließlich geht es um einen Antrag, der außerhalb der HV gestellt ist.

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Wenn Trickserei der Anwälte von Betroffenen mit dem Gesetz bei diesen Fällen so ausschließlich und offensichtlich ist, wie hier behauptet, dann ist der Gesetzgeber über die gegebenen Mittel und Wege zur Nachbesserung des Gesetzes aufzufordern.

Auch ein Gesetzgeber kann keinen Spagat normativ regeln zwischen Anhörungsrechten bis zur letzten Sekunde vor einer Urteilsverkündigung und den organisatorischen Möglichkeiten / Gegebenheiten im Justizalltag.

Das ist doch m.E. der springende Punkt, Unmöglichkeiten sind eben nirgends möglich.

Sehr zutreffend, Herr Rudolphi. Und dann kommt die Frage nach dem "Unmöglichen". Das logisch-naturwissenschaftliche "unmöglich"? Gewisse Rechtslaien, Gutigutis und  juristisch Halbgebildete meinen ja leider oft, a) entweder müsse der Gesetzgeber ("Demokratie"!!) alles ganz genau regeln ( bis zu den perversesten Absonderlichkeiten), oder: b) alles müsse sich eindeutig aus dem Gesetz ergeben.  Und wenn's denen dann nicht passt, dann wird bedeutungsschwer von den "Grundfesten des Rechtsstaats" palavert. Siehe unangenehm viele im SamiFanClub. 

SekundenrechtsstaatAuswertung

Nach beck blog 20180903

Von Egon Peus 20180903

Wie erfahren folgende zeitrelevante Angaben:

  1.  OLG Bamberg, Beschluss v. 03.07.2018 – 3 Ss OWi 932/18

dem Gericht erst am Sitzungstag unmittelbar vor dem anberaumten Termin übermittelt“; „bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung dem Gericht vorgelegt wird oder ihr Inhalt tatsächlich zur Kenntnis des Gerichts gelangt ist, kommt es nicht an.“ „erst am 22.03.2018 um 14.24 Uhr und damit nur kurz vor dem auf 14.45 Uhr angesetzten Hauptverhandlungstermin per Telefax beim AG einging“……..“ möglicherweise dem zuständigen Richter gar nicht mehr vorgelegt“……. Maßgeblich ist vielmehr allein, dass………

das AG am Terminstag vor Beginn der Hauptverhandlung tatsächlich erreicht hatte--------- bei gehöriger gerichtsinterner Organisation dem zuständigen Richter rechtzeitig hätte zugeleitet werden können……….pflicht, dass der Richter sich zuvor bei seiner Geschäftsstelle informiert

Der vielerörterte „Rechtstaat“ kennt also: 21 Minuten; das ist „kurz“ vor dem Termin. „Am Terminstag VOR Beginn der Hauptverhandlung – das wäre auch 14.44.59 Sekunden. Oder? Wie lange währt der Termin? Bis Schluss der Beweisaufnahme (der Plaidoyer?) permanente Unterbrechung durch Vorsitzenden, oder in Abständen? Noch einmal vor Beabsichtigtem Schluss der Verhandlung? Aktive Fragepflicht des Vorsitzenden – Anweisung an Geschäftsstelle, etwa wegen Eingang SOFORT ( ggf.  per Telephon) zu melden, genügt nicht? Wenn,  dann Bote? Wartepflicht im Saal, bis Bote da?

 

  1.  OLG Hamm Beschl. v. 22.06.2011 - III-5 RBs 53/11,

Schriftsatz des Verteidigers vom 6. Januar 2011, der dem Amtsgericht erst am Terminstag, dem 7. Januar 2011, um 09.00 Uhr und damit nur ca. eineinhalb Stunden vor der angesetzten Terminsstunde per Fax

Teilt NICHT Auffassung OLG Bamberg von 2008, wonach ein ………… erst 30 Minuten vor dem Beginn der Hauptverhandlung per Fax übermittelter Schriftsatz….. dem zuständigen Tatrichter noch zur Kenntnisnahme vorgelegt wird und der Antrag damit rechtzeitig bei Gericht eingegangen ist. …….. Diese Ansicht erscheint lebensfremd, sie entspricht nicht der Realität des Gerichtsalltags………….. Angesichts dieser gerichtsbekannten alltäglichen Handhabung mutet es schon weltfremd an, einem per Fax übersandten Schreiben bereits aufgrund der gewählten Übermittlungsform eine wesensimmanente grundsätzliche Eilbedürftigkeit beizumessen…………… vom 6. Januar 2011………. mit dem weiteren Hinweis: "Bitte sofort dem Richter vorlegen! Hauptverhandlung am Freitag, den 07.01.2011, 10:40 Uhr, 1. Etage, Sitzungssaal 14!"………… zwar unter dem 6. Januar 2011 gefertigt, aber erst am nächsten Tag, dem Terminstag, per Fax dem Gericht übersandt wird. Der Entbindungsantrag wird zudem in keiner Weise optisch hervorgehoben und auch nicht seitens des Verteidigers selbst gestellt. Er findet sich vielmehr versteckt in einer längeren gesperrt geschriebenen eigenen Einlassung des Betroffenen…………… Ob bei einem eineinhalb Stunden vor dem Hauptverhandlungstermin per Fax……….. von einem rechtzeitigen Eingang bei Gericht gesprochen werden kann………….. (dahingestellt).“ Zitat Ende. (BISHER IST ALLES NEBENGELÜFTE; SACHUNERHEBLICH und nicht tragende Begründung; DAVON AUSZUGEHEN; DASS Schriftsatz  dem Richter vorlag, aber nicht ausgewertet; Urteil in zwei Textvarianten ersichtlich. Murks – zurück deswegen)

Immerhin aus den Nebengelüften: Zugang „bei Gericht“-  beim Richter der im Faxeingang Geschäftsstelle? Aus Faxcharakter folgt ( für Tempoeinschätzung Geschäftsstelle) nichts für Eile, weil generell gängig. Einundeinhab Stunde vor Termin – da kann man an Vorlage ix erwarten. Annahme Eilbedürfnis wäre „weltfremd“.

  1. Frau Bundesministerin Dr. Barley tummelt sich in den höchsten Tönen des „Rechtsstaats“. Im Fall Sami wurde auch gefaxt. Viele zählen Minuten, das OVG Münster gar Sekunden. Jetzt wissen wir doch, wo die WAHREN Probleme und Gefährdungen des „Rechtsstaats“ liegen. 9o Minuten OLG Hamm – ca. 20 Minuten OLG Bamberg und Minister in Düsseldorf. Bittschön flotti! „Rechtsstaat“!!

 

 

 

 

Herr Lippke hat oben wegen eingegangener Faxe und Tempo ausgeführt: ""Recht und Gesetz" im Grundgesetz heißt nicht Deutungshoheit der Richter über das Gesetz. "Recht" ist nicht durch die sogenannte richterliche Rechtsfortbildung definiert. Diese Methoden des Rechtsmissbrauchs waren schon in der Vergangenheit für katastrophale politische Entwicklungen und Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich und sind es bis heute." Zitat Ende. Recht und Gesetz, Rechtsmissbrauch, Menschenrechtsverletzungen. Hoch gehängt, fürwahr. "Rechtsstaat" - der sich im Minutenfortschritt realisiert, am besten in Sekunden gezählt. 

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