Gummibärchen im Nachtprogramm

von Prof. Dr. Marc Liesching, veröffentlicht am 13.03.2023

„Sie kennen mich! Ich bin alles andere als ein Verbotsfanatiker!“, beteuerte der amtierende Bundeslandwirtschaftsminister der Grünen, Cem Özdemir am 27. Februar 2023 im Rahmen der PK-Ankündigung seines Entwurfs eines gesetzlichen Werbeverbots für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Salz- oder Fettgehalt. Der erst danach bekannt gewordene Referentenentwurf (Bearbeitungsstand 14.2.2023) sieht Verbote vor, die sich nicht nur an werbende Lebensmittelunternehmen richten, sondern an „jede natürliche oder juristische Person, die Werbung oder Sponsoring“ betreibt. Normadressaten sind neben Presseverlegern alle Rundfunkveranstalter und sämtliche Anbieter von Telemedien einschließlich Sozialer Netzwerke und Video-Sharing-Plattform-Dienste.

Sachliche Bezugsprodukte der Werbeverbote sind u.a. Schokolade, Müsliriegel, süße Aufstriche und Desserts, Energy-Drinks, Kuchen, süße Backwaren und Speiseeis. Daneben sollen weitere Lebensmittel nach Mengengrenzwerten entsprechend dem (für ungezuckerte Säfte und Milch leicht modifizierten) Nährstoffprofil-Modell der WHO Europa den Restriktionen unterfallen, z.B. Buttermilch, Frühstückscerealien, Käse und Quark, Fertiggerichte, Teigwaren, Reis und Getreide. Nach Befunden einer wissenschaftlichen Studie könnte das Werbeverbot aufgrund der WHO-Grenzwerte durchschnittlich etwa 70% aller Produkte dieser Lebensmittelkategorien betreffen (vgl. Storcksdieck/Robinson/Wollgast/Caldeira, The ineligibility of food products from across the EU for marketing to children according to two EU-level nutrient profile models).

Hinsichtlich der medieninhaltlichen Ausrichtung enthält der Entwurf zwei kumulativ anzuwendende Werbetatbestände:

  • Nach § 4 Abs. 1 BMEL-RE soll ein absolutes Verbot gelten für Sponsoring und für Werbung, die „ihrer Art nach besonders dazu geeignet ist, Kinder zum Konsum zu veranlassen oder darin zu bestärken“, was nach der Entwurfsbegründung entsprechende Werbegestaltungen „im weitesten Sinne“ umfasse. - „Haribo macht Kinder froh“ wäre komplett verboten.
  • Zusätzlich gelten – unabhängig von der Werbegestaltung – nach § 4 Abs. 2 BMEL-RE weitere Werberestriktionen. Diese sehen z.B. in Satz 2 Nr. 1 für Rundfunk sowie sonstige audiovisuelle Mediendienste ein generelles Verbreitungsverbot in der Zeit zwischen 6 und 23 Uhr vor. Das Totalverbot bzgl. Tages-, Hauptabend- und Spätabendprogramm soll auch für an Erwachsene gerichtete Werbeinhalte gelten. - „Haribo macht nur Erwachsene froh“ wäre im Nachtprogramm noch zulässig.

Hinsichtlich der Sanktionierung von Verstößen sind Bußgeldvorschriften (§ 9 BMEL-RE) sowie Aufsichtsmaßnahmen einer „Marktüberwachungsbehörde“ (nach Landesrecht) vorgesehen, die sich auch an die Rundfunkveranstalter und sonstigen Medienanbieter richten können (§ 8 BMEL-RE).

Die Verbotsreichweite der in § 4 BMEL-RE vorgeschlagenen Tatbestände ist restriktiver als die bisher im gesetzlichen Jugendmedienschutz etablierten Werbe- und Verbreitungsbeschränkungen. Zwar dürfen Softpornos und FSK-18-Filme grundsätzlich auch nur im Nachtprogramm (23-6 Uhr) verbreitet werden. Bei Nutzung alternativer technischer Mittel (z.B. Tagging für anerkannte Jugendschutzprogramme wie JusProG) sind solche Angebote aber zu jeder Tageszeit frei empfangbar (vgl. §§ 5 Abs. 3, 11 JMStV). Eine entsprechende Möglichkeit sieht der BMEL-Referentenentwurf nicht vor. Im Vergleich hierzu weniger restriktiv ist etwa auch die gesetzliche Beschränkung der Werbung für virtuelle Automatenspiele, Online-Poker und Casinospiele (vgl. § 5 Abs. 3 S. 1 GlüStV 2021). Werbung für Glückspiel kann der Fernsehzuschauer ab 21.00 Uhr sehen, für Gouda-Käse müsste er künftig ggf. zwei Stunden länger wach bleiben.

Dem im Rahmen der Pressekonferenz intuitiv antizipierten „Gegenwind“ gegen ein solches Gesetzesvorhaben warf Herr Özdemir schon mal vorauseilend entgegen: „Das halt ich aus“. Entscheidender als die persönliche mentale Resilienz des Politikers könnte allerdings sein, dass das Verbotsvorhaben einer Prüfung verfassungsrechtlicher Grundlagen zur Gesetzgebungskompetenz möglicherweise nicht standhält. Denn angebotsinhaltliche Jugendschutzregulierung in Rundfunk und Telemedien ist Sache der Bundesländer. Diese haben auch schon seit 2020 eine Regelung bezüglich Rundfunk- und Telemedienwerbung für einschlägige Lebensmittel in § 6 Abs. 7 JMStV normiert und damit die entsprechenden unionsrechtlichen Vorgaben der AVMD-RL kongruent umgesetzt – mit bundeseinheitlicher Geltung. Hierauf geht der BMEL-Referentenentwurf nicht ein, sondern proklamiert gegenteilig in der Entwurfsbegründung die Erforderlichkeit einer „bundeseinheitlichen Regelung“. Diese Erforderlichkeit ist nach Art. 72 Abs. 2 GG auch Voraussetzung dafür, dass der Bund einen Regulierungsbereich im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG) überhaupt an sich ziehen kann.

Zwar berief sich Bundesminister Özdemir in der PK Ende Februar in der Sache zutreffend darauf, dass die Verbraucherschutzminister der Länder den Bund um eine Regulierung gebeten hätten – allerdings eben nur „im Rahmen seiner Regelungszuständigkeit“. Entsprechend wurde seine Pressekonferenz „länderseitig mit Irritation zur Kenntnis genommen“, wie es in einem Brief der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz an die zuständige BMEL-Staatssekretärin heißt, der ja „sicherlich bekannt“ sei, dass „Fragen der Medienregulierung eindeutig in der Zuständigkeit der Länder liegen“. Prompt fasste auch die Rundfunkkommission der Länder auf ihrer Sitzung am 8. März 2023 einen entsprechenden Beschluss und wies zusätzlich auf die „bereits existierenden Regelungen auf nationaler und europäischer Ebene“ hin.

Dessen ungeachtet könnte sich das seitens des BMEL gewünschte Bundes-Werbeverbotsgesetz aufgrund Unionsrechts in der praktischen Anwendung ohnehin löchriger erweisen als so manches Käseprodukt, dessen Bewerbung es zu untersagen trachtet. Denn für Internet-Diensteanbieter mit Sitz in anderen EU-Mitgliedstaaten gilt das Herkunftslandprinzip nach Art. 3 Abs. 2 E-Commerce-RL (s.a. § 3 TMG). Werbung für Softdrinks und Schokoriegel in den bei Kindern beliebten sozialen Netzwerken wie Facebook, YouTube, Twitter, Instagram und TikTok ist von dem BMEL-RE-Werbeverbot von vorneherein grundsätzlich nicht betroffen, da die Plattformbetreiber ihren Sitz in Irland haben. Für audiovisuelle Mediendienste und Videosharing-Plattformen können Mitgliedstaaten wie Deutschland zwar strengere Bestimmungen als die auf Selbstregulierung bezogenen AVMD-RL-Vorgaben für Lebensmittelwerbung umsetzen – aber eben nur für „Mediendiensteanbieter, die ihrer Rechtshoheit unterworfen sind“ (vgl. Art. 4 Abs. 1, 9 Abs. 4 AVMD-RL). Die reichweitenstärksten und bei Kindern beliebten Angebote von Diensteanbietern mit Sitz in anderen EU-Mitgliedstaaten dürfen weiter werben – die in Deutschland (noch) ansässigen Medienunternehmen ggf. nicht mehr.

Weitere unionsrechtliche Fragestellungen ergeben sich in diesem Zusammenhang aus der Überantwortung der Überwachung der Werbeverbote auf „Behörden“ nach § 8 Abs. 1 BMEL-RE. Denn in Bezug auf audiovisuelle Mediendienste und Videosharing-Plattformen gilt der Grundsatz der rechtlichen und funktionellen Unabhängigkeit der Medienaufsicht (vgl. Art. 30 Abs. 1 AVMD-RL, auch i.V.m. § 28b Abs. 5 AVMD-RL). Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung hat dessen Bedeutung schon in Bezug auf das Bundesamt für Justiz und die Überwachung sozialer Netzwerke nach dem NetzDG deutlich hervorgehoben (VG Köln MMR 2022, 330). Eine nachträgliche landesgesetzliche Aufsichtsinvestitur der Landesmedienanstalten würde eine Doppelzuständigkeit nach JMStV und BMEL-Gesetz begründen, welche die oben beschriebene Diskrepanz und Ungleichbehandlung im gesetzlichen Jugendmedienschutz noch augenfälliger machen könnte – und die fehlende Gesetzgebungskompetenz des Bundes ohnehin.

Übergewicht und die Gefahr von Folgeerkrankungen aufgrund von Fehlernährung bei Kindern und Jugendlichen können grundsätzlich wichtige Sachgründe darstellen, die gesetzliche Regeln und damit verbundene Eingriffe in verfassungsrechtliche Grundfreiheiten zu rechtfertigen geeignet sind. Für eine Legitimation sehr weitreichender Werbeverbote wie nach dem BMEL-RE ist freilich eine gewisse wissenschaftliche Fundierung des Ursachenzusammenhangs zwischen der Bewerbung einschlägiger Lebensmittel und einem gerade hierdurch bedingten Mehrkonsum der beworbenen Produkte durch Kinder und Jugendliche notwendig, da bei intensiven Grundrechtseingriffen verbleibende Unklarheiten in der Bewertung von Tatsachen nicht nur zulasten der Grundrechtsträger gehen dürfen (vgl. BVerfG NJW 2022, 139, 149 Rn. 171). Andere Ursachen wie familiäre Faktoren, die Adaption von Verhaltensweisen im engen sozialen Umfeld (Eltern und Freundeskreis), Bewegungsmangel (im und nach dem Pandemie-Lockdown), sozialökonomischer Status und Bildungsgrad oder medizinische Prädispositionen könnten die – auch bei dem BMEL-RE mitschwingenden – Hoffnungen auf eine messbare Gewichtsabnahme bei dem gefährdeten Anteil von Kindern in der Bevölkerung nach der Bannung von Werbung in der Realität unterminieren. Feststellen ließe sich dies – ex ante wie ex post – nur durch wissenschaftliche Studien. In der Begründung des Referentenentwurfs des BMEL steht hierzu unter Punkt VII. „Evaluierung“ – nichts.

Sollte das im BMEL-RE vorgeschlagene Werbeverbot nach Abstimmung mit den anderen, an der Bundesregierung beteiligten Parteien noch eine politische Zukunft haben, könnte das weitere Gesetzgebungsverfahren angesichts des Eingriffs in die originäre Regelungskompetenz der Länder turbulent werden – unabhängig davon, ob es (etwa aufgrund Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG) der Zustimmung des Bundesrats bedarf oder lediglich die Möglichkeit des Einspruchsverfahrens nach Art. 77 Abs. 3 und 4 GG eröffnet ist. Wie ein etwaiges, diesen Herausforderungen trotzendes Bundesgesetz am Ende aussehen könnte, erscheint kaum vorhersehbar. Sollten die hier nur kursorisch skizzierten, interessanten verfassungs- und unionsrechtlichen Fragen offenbleiben, wäre eine alsbald nach Inkrafttreten folgende Prüfung durch das BVerfG – z.B. auf Beschwerde der stark von Werbeinnahmen abhängigen privaten Rundfunkveranstalter – nicht unwahrscheinlich. Facebook, Google und Co. könnten freilich schon davor nach geübter Praxis (vgl. VG Köln MMR 2022, 330) durch Verwaltungsgerichte vorbeugend feststellen lassen, dass das deutsche Werbeverbot für sie ohnehin nicht gilt.
 

Pre-Print Veröffentlichung des Editorials - Liesching, MMR 2023, 241.

(Mit freundlicher Genehmigung der MMR-Redaktion)

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