EuGH: Vermeidung der Arbeitnehmermitbestimmung in der SE

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 03.06.2024

In den 1980er- und 1990er-Jahren hat sich Deutschland lange den Bestrebungen der EU-Kommission widersetzt, eine "europäische Aktiengesellschaft" als neue Gesellschaftsform zuzulassen. Zu groß war die Sorge, die in Deutschland etablierte Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat (DrittelbG, MitbestG, Montan-MitbestG) könnte durch die SE unterlaufen werden. Dass diese Sorge nicht unbegründet war, bestätigt ein aktuelles Urteil des EuGH:

Die O Holding SE wurde am 28.3.2013 in England durch die O Ltd. und die O GmbH gegründet und in das Register für England und Wales eingetragen. Die O Ltd. und die O GmbH beschäftigen beide keine Arbeitnehmer und haben auch keine Tochtergesellschaften, die Arbeitnehmer beschäftigen. Deshalb fanden vor dieser Eintragung keine Verhandlungen über eine Arbeitnehmerbeteiligung statt. Schon am darauffolgenden Tag, also am 29.3.2013, wurde die O Holding SE alleinige Gesellschafterin der O Holding GmbH, einer Gesellschaft mit Sitz in Hamburg (Deutschland), deren Aufsichtsrat zu einem Drittel aus Arbeitnehmervertretern bestand. Zwei Wochen später beschloss die O Holding SE, diese Gesellschaft in eine Kommanditgesellschaft – die O KG – umzuwandeln. Infolge dieser Umwandlung entfiel die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Während die O KG gut 800 Arbeitnehmer beschäftigt und über Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten mit insgesamt ca. 2.200 Arbeitnehmern verfügt, beschäftigen ihre Gesellschafterinnen – die O Holding SE als Kommanditistin und die in Hamburg eingetragene O Management SE als persönlich haftende Gesellschafterin, deren alleinige Anteilseignerin die O Holding SE ist – keine Arbeitnehmer. 2017 verlegte die O Holding SE ihren Sitz nach Hamburg.

Der Konzernbetriebsrat der O KG war der Ansicht, dass die Leitung der O Holding SE nachträglich ein besonderes Verhandlungsgremium bilden müsse, um über eine Beteiligung der Arbeitnehmer in den Organen der SE zu verhandeln. Die O Holding SE verfüge (nunmehr) über Tochtergesellschaften, die Arbeitnehmer in mehreren Mitgliedstaaten beschäftigten. Er leitete ein arbeitsgerichtliches Beschlussverfahren ein. Das BAG hat dem EuGH mehrere Fragen zur Auslegung des AEUV, der SE-Verordnung (EG) 2157/2001 und der SE-Richtlinie 2001/86/EG vorgelegt (BAG, Beschl. vom 17.5.2022 – 1 ABR 37/20 (A), NZA 2023, 44).

Auf diese Fragen hat der EuGH nun geantwortet, dass in Fällen wie dem vorliegenden eine Beteiligung der Arbeitnehmer nicht nachgeholt zu werden braucht. Die „arbeitnehmerlos“ gegründete SE bleibt also mitbestimmungsfrei, auch wenn sie später über Tochtergesellschaften verfügt, deren Arbeitnehmerzahl die Schwellenwerte für die Mitbestimmung in der SE überschreiten:

Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) in Verbindung mit den Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer

ist dahin auszulegen, dass

er, wenn eine Holding-SE, die von beteiligten Gesellschaften gegründet wird, die keine Arbeitnehmer beschäftigen und nicht über Arbeitnehmer beschäftigende Tochtergesellschaften verfügen, ohne vorherige Durchführung von Verhandlungen zur Beteiligung der Arbeitnehmer eingetragen wird, die spätere Aufnahme solcher Verhandlungen nicht deswegen vorschreibt, weil diese SE herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in einem oder mehreren Mitgliedstaaten geworden ist.

EuGH, Urt. vom 16.5.2024 – C-706/22, BeckRS 2024, 10294 – Konzernbetriebsrat

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