In der Afghanistan-Affäre werden immer neue Details bekannt: Targeting?

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 12.12.2009

Bereits gestern meldete die Süddeutsche Zeitung, der Luftschlag bei Kundus habe - anders als bisher behauptet - nicht auf zwei Tanklastzüge, sondern auf eine große Gruppe von Taliban und ihre Anführer gezielt.

Das deckt sich jedenfalls mit SPIEGEL-Informationen Nr. 49/2009 S. 31, wonach für die deutschen Soldaten in Afghanistan das gezielte Töten mittlerweile den Schwerpunkt der operativen Rechtsberatung bilde; es fehle jedoch an einer klaren Weisung seitens der Politik, ob und inwieweit sich Deutschland an Targeting-Einsätzen beteiligen kann.

Die Völkerrechtler sehen im Liquidieren mutmaßlicher Top-Terroristen das zentrale Problem sog. asymmetrischer Kriege. Geht es dabei aber noch um Krieg oder "nur" um Verbrecherjagd, bei der die üblichen strafrechtlichen Standards (das Tötungsverbot ist nur durch Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe eingeschränkt) gelten? Es geht wohl um eine Form der Verbrecherjagd, aber eben doch um eine besondere Form der Verbrecherjagd wie der Krieg in Afghanistan zeigt. Deshalb diskutieren die Völkerrechtler auch, ob es zwischen dem Recht bei bewaffneten Konflikten und dem staatlichen Strafverfolgungsrecht eine dritte Spur geben könnte. Wie dieses Recht aussehen könnte, diskutierte man schon vor Jahren in Israel (Quelle SPIEGEL a.a.O. S. 34):

  • Nur direkt in den Terror verwickelte Personen dürfen ins Visier genommen werden.
  • Einsatz nur in Gebieten, wo der Staat keine direkte Kontrolle ausübt.
  • Es darf keine Möglichkeit geben, die in den Terror verwickelten Personen festzunehmen.
  • Die Operation muss dem Gebot der Verhältnismäßigkeit folgen, die Gefahr von Kollateralschäden muss auf ein Minimum reduziert werden.
  • Die Regierung selbst muss den Tötungsbefehl geben.

Sollte der von der SZ zitierte Isaf-Bericht zutreffen, wäre jetzt eine völlig neue Debatte zu führen. Von einer vorbehaltlosen Information des Parlaments wie der Öffentlichkeit über die Vorfälle im Kundus kann jedenfalls bislang keine Rede sein.

 

 

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14 Kommentare

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Heribert Prantl stellt heute in seinem Kommentar für die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift "Blankes Kriegsrecht" dar: Wenn "zur Selbstverteidigung" jeder Gegner getötet werden darf, dann verabschiede sich unser Land aus dem Isaf-Mandat ("Aufbausicherung") und plädiere für die Vernichtung des Gegners als vorrangigem Ziel; dann herrsche aber "blankes Kriegsrecht".

PS Leider stellt mir die Eingabemaske derzeit nicht die Möglichkeit zur Verfügung, den Link direkt einzubauen. Deshalb hier gesondert der Link auf den Kommentar von Herrn Prantl: http://www.sueddeutsche.de/politik/69/497375/text/

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. v. Heintschel-Heinegg,

die Bundeswehr stellt auf ihrer webpage "www.einsatz.bundeswehr.de" einige rechtliche Grundlagen des Afghanistaneinsatzes zusammen, die Resolutionen des Sicherheitsrates und die Entschließungsanträge an den Deutschen Bundestag.

In der Rubrik "Antwort auf Fragen " wird u.a. ausgeführt:

"Wann dürfen ISAF-Soldaten Gewalt anwenden ?

Die ISAF ist autorisiert, alle erforderlichen Maßnahmen einschließlich der Anwendung militärischer Gewalt zu ergreifen, um den Auftrag gemäß Resolution des Sicherheitsrates durchzusetzen. Die Soldaten der ISAF haben auch die Befugnis zur Wahrnehmung des Rechts auf bewaffnete Nothilfe zugunsten Jedermann. Die einzelnen Bestimmungen sind in den Einsatzregeln (Rules of Engagement) festgelegt und für die deutschen Soldaten in einer Taschenkarte umgesetzt. Diese ist allen Soldaten vertraut."

Die "ISAF Rules of Engagement" und die "Taschenkarte" für die Bundeswehrsoldaten kann ich auf die Schnelle nicht finden; vielleicht kann der blogg ja helfen ...

Grüße Kostas

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Die Debatte veranschaulicht, mit welcher grenzenlosen Naivität die deutsche Öffentlichkeit dem Einsatz ihrer Truppen in Afghanistan immer noch gegenüber steht. Wenn man schon bereit ist, den Schutz humanitären Engagements als originären Zweck zu betrachten (was zusammen mit der begründeten Annahme, der zivile Wiederaufbau - unter prosperierender Korruption und Tolerierung des Drogenanbaus - diene wiederum lediglich der Absicherung des eigentlichen militärischen Vorgehens der USA, einen Zirkelschluss ergibt), so muss man doch mit etwas Realitätssinn erkennen, dass "militärischer Schutz" vor einem kriegsführenden Gegner seinerseits Kriegsführung bedeutet, sprich systematisches Töten und Verwunden des Gegners zu einem Zeitpunkt, in dem man die Lage noch unter Kontrolle hat.
Kundus ist nicht Unglücksfall sondern unmittelbare Konsequenz eines Auftrags, dessen Dynamik nicht von rechtlichen Qualifizierungen zu kanalisieren ist. Daran muss die Bereitschaft für die deutsche Beteiligung gemessen werden. Der militärischen Realität jeweils eine neue rechtliche Einordnung nachzuführen, ist für diese Einschätzung vollkommen überflüssig und taugt allenfalls den Schreibtischstrategen als Alibi.

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@ Richard: Meiner Meinung nach nicht die deutsche Öffentlichkeit, die weiß ziemlich genau das dort Krieg herrscht. Eher die Eliten, die zwar einerseits für "humanitäres Engagment" usw. sind, aber andererseits bloß keine Verantwortung für Tötungen übernehmen wollen. Vgl. nur den überrascht-empörten Artikel von Prantl, 8 Jahre nachdem wir in Afghanistan sind. Dabei hat er auch ganz vergessen, dass dies keineswegs die erste "gezielte" Tötung seit dem 2. WK ist; deutsche Tornados waren im Luftkrieg gg. Serbien eingesetzt und die Bodentruppen im Kosovo haben auch schon was erlebt.

@ Heintschel-Heinegg
Auch wenn ich ihre Blogeinträge sonst sehr schätze, muss ich doch folgenden Satz kritisieren:
"Die Völkerrechtler sehen im Liquidieren mutmaßlicher Top-Terroristen das zentrale Problem sog. asymmetrischer Kriege."
Klar, in den deutschen Medien ist jeder "Terrorist" der gg. die ISAF Kräfte kämpft. Doch handelte es sich beim Luftangriff nicht um einen gezielten Einsatz gg. einen bekannten und gesuchten "Top-Terroristen", der Anschläge ausübte oder ausüben will. Es wurden Kämpfer angegriffen. Es war eine Kriegshandlung, die sich nach den altbekannten Regeln des humanitären Völkerrrechts beurteilen lässt.
Die haben sich auch nicht geändert, nur weil man den jetzigen Konflikt überall mit dem nichtssagenden Buzzword "asymmetrische Kriege" beschreibt.

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Da müssen ja in Kundus viele Zivilisten "Top Terroristen" gewesen sein!
Welcher "Top Terrorist" wurde denn in Kundus beseitigt?
Rechtfertigt dies jene Kollateralschäden?

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Hauptproblem für eine Diskussion ist doch, dass hier keiner so recht die tatsächlich eingeräumten Befugnisse in den konkreten (für den Afghanistan-Einsatz ergangenen) ROE (rules of engagement) kennt. Erst danach könnte man beurteilen, ob außer der Ausübung von Notwehr und Nothilfe weitere Befugnisse eingeräumt waren, die z.B. die gezielte Tötung von feindlichen Kämpfern zuließen.

Allerdings scheint die Reaktion der Opposition darauf hinzudeuten, dass zumindest den Parlamentariern die diesbezüglichen ROE ebenfalls nicht bekannt waren. Möglicherweise gab es auch eine Änderung der ROE durch die Regierung, ohne das Parlament darüber zu informieren.

Das darf in einer Demokratie nicht sein.

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@kostas

Die Rechtsfrage ist, worauf in Deutschland bis hin zum BVerfG viel Wert gelegt wurde, komplizierter. Neben dem "guten" Isaf-Mandat, die afghanische Regierung bei der Sicherung und dem Wiederaufbau des Landes zu unterstützen, gab/gibt (?) es das "böse" Anti-Terror-Mandat OEF für die breit angelegte militärische Operation zum Sturz der Taliban nach dem 11. September 2001. - Am Wochenende konnte jeder lesen, dass sich im deutschen Feldlager in Kundus eine sog. Task Force 47 (TF 47) befindet. Diese Spezialkommando habe die Aufgabe, gezielt afghanische Taliban zu verfolgen (die amerikanischen Streitkräfte gehen da auch noch einen Schritt weiter). Aber auch unter dem Isaf-Mandat ist es den Staaten gestattet, "alle zur Erfüllung ihres Mandats notwendigen Maßnahmen zu ergreifen."

@igel, ra.stroecker

Ob rechtlich eine "dritte Spur" aufzumachen ist, wollte ich ganz allgemein in die Diskussion einbringen (die allgemein zugängliche Meldung als solche wäre für den Blog doch zu wenig), ohne selbst dabei schon eine feste Meinung zu haben (wenngleich aus meiner Sicht sehr viel dafür spricht). Wenn es eine Kriegshandlung (und nicht ein Fall der "dritten Spur") gewesen sein sollte, würde das Oberst Klein entlasten: Taliban-Führer wären ein militärisches Ziel, die Verhältnismäßigkeit des Angriffs werde zu prüfen.

Klarstellend: Mit dem von "igel" kritsierten Satz aus meinem Eingangsbeitrag wollte ich nicht zum Ausdruck bringen, dass der Luftschlag in Kundus "Top-Terroristen" galt (das weiß ich nicht), sondern wollte allgemein die Rechtsfrage aufwerfen. Dass es sich um einen Top-Terroristen handeln muss, bildet rechtlich beim "Targeting" ein wichtiges Einschränkungskriterium.

@ kostas (17:24)

Nachdem uns die Regierungspolitik nicht weiterhilft, müssen wir hier uns im Blog mit den rechtlichen Fragen abmühen (sehr interessant ist das ja allemal). Es ist wie beim Zwiebelschälen. Und ein Stück sind wir ja schon vorangekommen. Besten Dank für den Link auf die Aufsätze zum Recht der Auslandseinsätze!

@ Prof. Dr. von Heintschel-Heinegg: die Bundeswehr bezeichnet nur ihren Einsatz am Horn von Afrika als OEF Einsatz, der Afghanistaneinsatz wird als ISAF gekennzeichnet (Quelle: www.einsatz.bundeswehr.de ). Ob gezieltes Töten zum Aufbau eines Landes erforderlich ist, muss bezweifelt werden.

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Sehr geehrte Mitdiskutierende,
die Frage , ob der Bombenabwurf auf die Tanklaster "angemessen" war oder nicht, ist m. E. ganz eng verknüpft mit der Frage, ob die Tötung von Taliban das Ziel war. Solange man nur die Tanklaster ausschalten wollte, erscheint es in der Tat absurd, dass Oberst Klein offenbar eine Vorwarnung (durch Überfliegen) der Menschen am Boden ausdrücklich verneinte. In Relation zu dem bisher angegebenen Ziel der Aktion war ein Bombenabwurf ohne Vorwarnung ganz offensichtlich unangemessen. Ich habe mich schon gewundert, wie Jung und Guttenberg damit durchkommen wollten.
War aber das Ziel tatsächlich die Ausschaltung von (wenn auch nicht besonders wichtiger, aber u. U. besonders vieler)Taliban, dann macht es natürlich "Sinn", die nicht vorzuwarnen. Jetzt entscheidet sich die Frage der Angemessenheit daran, wie viele Zivilisten man "opfern darf", um wie viele Taliban zu erwischen. Wenn Oberst Klein dieses Ziel hatte (und hierzu auch seitens der politischen Führung ermächtigt war), dann bessert sich aufgrund dieser Information seine strafrechtliche Lage. In der FAZ-Sonntagszeitung von heute werden mehrere Völkerrechtler zitiert, die einen solchen Angriff, um gegnerische Kampfeinheiten zu töten, im Krieg rechtfertigen, wenn nicht unverhältnismäßig viele Zivilisten gefährdet werden. Sie meinen damit offenbar nicht "targeting", um einzelne Terroristen aus der Luft zu töten, wie wir es aus Israel/Gaza kennen, sondern den schlichten Kriegsauftrag, mlöglichst viele Gegner "auszuschalten", sprich zu töten.
Aber es fragt sich dann natürlich umso vehementer, ob dieses Ziel überhaupt mit dem Mandat der Bundeswehr in Afghanistan übereinstimmt.
Beste Grüße
Henning Ernst Müller

@werner (#7),
nach den über wikileaks an die Öffentlichkeit gekommenen Berichten (der "Feldjägerbericht" und weitere Dokumente als Anlagen)stützte man sich beim Bombenabwurf wohl auf die ISAF ROE (Rules of engagement) 429A bzw. 429B.
Diese lauten:
429A: "Attack on individuals, forces or groups resisting ISAF in its mission to facilitate the lawful extension of Afghan government authority to secure and stabilize Afghanistan, by realistic and identifiable threat of force or use of force is authorized"
429B: "Attack on individuals, forces or groups challenging ISAF´s complete and unimpeded freedom of movement by realistic and identifiable threat of force or use of force is authorized"
Allerdings gilt diese Ermächtigung nicht generell, sondern ist jeweils Gegenstand einer Einzelfall-Bewertung. Dabei ist natürlich auch zu berücksichtigen, ob neben den "insurgents" auch Zivilisten getroffen werden können.
Im Übrigen muss man die Leaks mit etwas Skepsis betrachten: Es ist deutlich nicht die "ganze" Geschichte, sondern nur ein Ausschnitt (laut wikileaks fehlen mind. 20 Seiten) . Was derjenige, der die Berichte an wikileaks geschickt hat, damit erreichen wollte, weiß man auch nicht genau. Aber immerhin könnte diese Veröffentlichung dazu führen, dass nun offener diskutiert werden muss. Hier ein Artikel auf Zeit-Online dazu: http://www.zeit.de/politik/ausland/2009-12/kundus-affaere-bericht
Besten Gruß
Henning Ernst Müller

Ulrich Kirsch, Chef des Bundeswehrverbandes, bringt es auf den Punkt:
"Die Frauen und Männer in Afghanistan fragen sich: Worüber diskutieren die eigentlich? Diskutieren die nicht am Thema vorbei? Wir sind hier jeden Tag im Kampf, im Gefecht. Wir erleben, dass es in der Tat hier ein nicht international bewaffneter Konflikt ist, wie die Völkerrechtler es sagen. Sie erwarten, dass der Deutsche Bundestag das zur Kenntnis nimmt und dementsprechend auch feststellt, dass hier nun das Völkerstrafrecht gilt und nicht nationales Strafrecht.“

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Vielen Dank zunächst für die aufschlußreichen Anmerkungen. Ich würde das Augenmerk gerne auf eine weitere rechtliche Fragestellung richten: Zwar geht aus dem von Prof. Müller zitierten Bericht hervor, dass nach Ansicht des RBStOffz der Angriff durch O Klein in eigener Kompetenz angeordnet werden konnte.

Meine erste Frage ist: Handelt derjenige, der eine im Einklang mit dem humVR stehende bewaffnete Schädigungshandlung vornimmt, tatbestandslos? Oder ist er gerechtfertigt oder entschuldigt?

Meine zweite Frage: Nehmen wir an, der Angriff war vor dem Hintergrund des humVR verhältnismäßig, kam aber unter Verletzung der ROE, spezifischer Befehle des COMISAF, der Vorschriften des Bundestagsmandats oder des VN-Sicherheitsratsbeschlusses zustande. Hat dies eine Auswirkung auf die Strafbarkeit, oder handelt es sich bei den geannten Rechtssätzen nur um die Dienstpflichten konkretisierende Anweisungen? Im letztgenannten Fall wäre nur eine disziplinare Ahndung möglich.

Prof. Oeter aus Hamburg hat sich im Interview mit NDR Info (http://www.ndrinfo.de/programm/sendungen/streitkraeftesendemanuskript178..., S. 15 f.) dementsprechend eingelassen, ist jedoch eine Begründung schuldig geblieben.

Vielleicht kann einer der Teilnehmer hier für Klarkeit sorgen? Ich wäre jedenfalls sehr dankbar dafür!

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