Fachliche und förmliche Vollständigkeit einer juristischen Fachübersetzung

von Peter Winslow, veröffentlicht am 02.05.2018

Die juristische Fachübersetzung steht trotz einiger wichtiger Berührungspunkte im starken Kontrast zur literarischen Übersetzung. Eine literarische Übersetzung ist eine Kunst und im Allgemeinen hat die Kunst, um dem amerikanischen Philosophen Stanley Cavell in diesem Punkt zu folgen, »in each instance to create or re-create its audience« (5). Die juristische Fachübersetzung existiert erst, nachdem die zukünftige Leserschaft bestimmt, dass sie existieren sollte, und sie entweder selber angefertigt oder in Auftrag gegeben hat. Sie wird also im Allgemeinen durch die Leserschaft ins Leben gerufen, nicht die Leserschaft durch sie.

Aus diesem Grund scheinen mir juristische Fachübersetzungen Gebrauchsgegenstände im Sinne des Architekten Adolf Loos zu sein oder zumindest ein wichtiges Merkmal mit diesen zu teilen. Wenn ich Loos richtig verstehe, so besteht ein bezeichnendes Merkmal eines Gebrauchsgegenstands darin, dass sämtliche seiner Bestandteile der Zweckbestimmung dienen und dieser Zweckbestimmung gemäß weder unersprießlich noch überflüssig sein sollten. Sämtliche Bestandteile haben also angesichts der Zweckbestimmung des Gebrauchsgegenstands wesentlich und nicht unwesentlich zu sein.* In diesem Sinne hat meines Erachtens eine juristische Fachübersetzung auch vollständig zu sein. Dabei ist jedoch eine Unterscheidung zwischen zwei Arten der Vollständigkeit zu treffen: die fachliche und die förmliche.

  Erste Art: die fachliche Vollständigkeit

Vor diesem Hintergrund will die fachliche Vollständigkeit nicht heißen, dass juristische Fachübersetzungen stets wörtliche – z. B. eins-zu-eins- – Übersetzungen sein sollten. Eine solche Auffassung hätte eine unnütze, weil nicht verständliche, Verwechslung zur Folge: nämlich einen Austausch der »Bestandteile« des Ausgangstexts mit der Zweckbestimmung der Übersetzung. Man denke nur an das in einem früheren Blogbeitrag angeführte Beispiel: »the contract is automatically extended respectively by one year« als Übersetzung des Satzes »der Vertrag verlängert sich automatisch jeweils um ein Jahr«. Dieser eins-zu-eins-Ersatz der einzelnen ausgangstextlichen Wörter durch ihre einzelnen zieltextlichen Entsprechungen führt nicht zum Verständnis, sondern zu grammatikalischem und sonstigem Unfug, was – da, glaube ich, sind wir alle einer Meinung – grundsätzlich nicht der Zweckbestimmung einer Übersetzung entsprechen kann.

Die fachliche Vollständigkeit will aber auch nicht heißen, dass juristische Fachübersetzungen stets sinngemäße – z. B. nur dem Sinnesgehalt und nicht dem Wortlaut entsprechende – Übersetzungen sein sollten. Das stellte eine zu vermeidende Gefahr der einseitigen Betrachtung dar, dass sich die Geister an Wörtern scheiden werden. Man denke nur an Übersetzungen aus dem Deutschen ins Englische, bei denen Übersetzer und Übersetzerinnen das Adjektiv »rechtsgeschäftlich« mit Absicht auslassen, weil sie der Auffassung sind, dass derselbe Sinnesgehalt auch durch Auslassung vermittelt wird – eine Argumentation, die man, so komisch es klingen mag, ab und an zu hören bekommt.

Vielmehr will die fachliche Vollständigkeit heißen, dass ungeachtet weiterer Tatsachen, Umstände und Besonderheiten die Zweckbestimmung einer juristischen Fachübersetzung (meiner Ansicht nach) regelmäßig »in dem Bedarf einer Partei« besteht, »ein in einer ihr fremden Sprache verfasstes Dokument zu verstehen«. Anhand dieser Zweckbestimmung lassen sich zumindest ein Makro- und ein Mikrokriterium der fachlichen Vollständigkeit feststellen.

Auf Makroebene gilt eine juristische Fachübersetzung als fachlich vollständig, wenn bei der Übersetzung nichts mehr aber auch nichts weniger zum Ausdruck kommt als bei dem Ausgangstext. Zum Beispiel sollten dieselben in dem jeweiligen Ausgangstext vorhandenen Merkmale (Unterscheidungen, Syllogismen, Beweisführungen und so weiter) auch in demselben Maße und mit derselben Überzeugungskraft, wobei sich diese unter anderem jeweils aus dem Sprachregister ableiten lassen, in die Übersetzung Eingang finden, ohne dass etwas dabei verloren geht oder hinzugefügt wird.

Auf Mikroebene gilt eine juristische Fachübersetzung als fachlich vollständig, wenn die zieltextlichen Fachbegriffe den ausgangstextlichen Fachbegriffen entsprechen, die den Sinn und die Bedeutung eines Ausgangstexts betreffenden Fehler die im Ausgangstext vorhandenen Fehler widerspiegeln, die im Ausgangstext vorhandenen Stempel und Siegel fachgerecht im Zieltext wiedergegeben werden, handschriftliche Anmerkungen übersetzt/als solches kenntlich gemacht werden und Ähnliches in die Übersetzung Eingang finden.

Leider gibt es weder eine schöne noch eine unschöne Formel, nach der die fachliche Vollständigkeit auf Mikro- und Makroebene sichergestellt werden kann. Seitens des Übersetzungsdienstleisters – der in aller Regel eine Art wenig wissenden Dritten darstellt; denn er hat sich nicht so intensiv mit der Sache befassen können wie der Auftraggeber, weil er regelmäßig keinen Zugang zu den zur Erstellung der jeweiligen Ausgangstexte erforderlichen Informationen und Unterlagen hat – bedarf die Sicherstellung dieser Vollständigkeit eines komplizierten und oft risikobehafteten Zwischenspiels der übersetzerischen Fähigkeiten, der fachlichen Kompetenzen, einer sorgfältig durchzuführenden Recherche und der sorgfältigen Berücksichtigung der im Ausgangstext vorhandenen Merkmale. Diese bedarf also menschlicher Bemühungen, die oft a messy and tedious business sind.

(In meinen extremeren und weniger vorsichtigeren Momenten vergleiche ich die Übersetzung mit dem Aufbau eines IKEA-Möbelstücks. Anhand eines nicht ganz nachvollziehbaren Bilderbuchs soll aus Einzelteilen ein Möbelstück werden; dabei muss man zusehen, dass neben der Geistesgegenwart und einer tauglichen Gemütsverfassung die erforderlichen Werkzeuge vorliegen, dass keine Schrauben übrigbleiben, die das Ganze zusammenhalten sollten, und dass man keine zusätzlichen Schrauben benötigt, damit das Möbelstück nicht auseinanderfällt.)

  Zweite Art: die förmliche Vollständigkeit

Die förmliche Vollständigkeit will lediglich heißen, dass die wesentlichen und unwesentlichen Bestandteile einer Übersetzung in Abhängigkeit des tatsächlichen Umfangs eines Auftrags bestimmt werden.

Ein Bestandteil einer Übersetzung ist förmlich wesentlich, wenn er dem Auftrag nach mit übersetzt werden sollten. Die Bestandteile des Ausgangstexts sollten in dem Umfang übersetzt werden, in dem sie zur Übersetzung in Auftrag gegeben werden. Es könnte sein, dass neben der »reinen« Übersetzungstätigkeit auch Tabellen nachgebaut und sonstige Formatierungsarbeiten vorgenommen werden müssen.

Ein Bestandteil einer Übersetzung ist förmlich unwesentlich, wenn er dem Auftrag nach nicht mit übersetzt werden sollten. Die Übersetzung sollte weder Auslassungen noch Hinzufügungen gegenüber dem in Auftrag gegebene Umfang des Ausgangstexts enthalten; es sollten keine Absätze, Sätze etc. fehlen, die dem Auftrag nach übersetzt werden sollten, bzw. es sollten keine Absätze, Sätze etc. mitübersetzt werden, die dem Auftrag nach nicht übersetzt werden sollten.

Ein Nebeneffekt dieser Auffassung: Bei dieser Art der Vollständigkeit wird klar, wie Teilübersetzungen vollständig sein können. Bei entsprechender Anweisung müssen nicht alle Bestandteile des Ausgangstexts übersetzt werden. Solange diese Bestandteile fachlich und förmlich vollständig sind, liegt ohne jeglichen Widerspruch und ohne jegliche Spannung eine vollständige Teilübersetzung vor.

  Endnote

* Siehe etwa den Loos-Aufsatz »Ornament und Verbrechen«. Dieser stellt eine lange und komplizierte Argumentation für genau diese Auffassung dar, die – true to its spirit – nur anhand einer Gesamtbetrachtung der Absicht, der Bestandteile und des Ganzen auszulegen ist, sodass selektives, wenn auch zutreffendes, Zitieren daraus zwangsläufig zu den Rahmen dieses Blogbeitrags sprengenden Ausführungen führte.

  Literaturverzeichnis

Cavell, S. »Philosophy and the Arrogation of Voice« in: A Pitch of Philosophy: Autobiographical Exercises. Cambridge: Harvard University Press, 1–51.

Loos, A. »Ornament und Verbrechen« in: Ornament und Verbrechen. Wien: Metroverlag, 94–109.

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2 Kommentare

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Dem kann ich nur zustimmen. Ich habe auch einen ähnlichen Spurch: Übersetzen hat nichts mit der Sprache zu tun, sondern mit dem Stoff (etwa: »translation isn't about language, it's about substance«).

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