Loveparade 2010 - "The Art of the Deal" in der Hauptverhandlung?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 18.01.2019

Schon im Oktober 2018  kam das Gerücht auf, im Prozess um die Loveparade 2010, die 21 Tote und hunderte Verletzte zur Folge hatte, tendiere die Strafkammer zu einer Einstellung des Verfahrens. Einige Nebenklagevertreter nahmen dies zum Anlass den NRW-Justizminister aufzufordern der Staatsanwaltschaft eine Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens zu untersagen. Wenn auch dies damals nicht unbedingt als kluge Prozesstaktik erschien und auch nicht von Erfolg gekrönt war, so verdichteten sich doch in der Folgezeit Hinweise darauf, das Gericht wolle im Januar in einem "Rechtsgespräch" mit Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Nebenklägervertretern eruieren, inwieweit eine Einstellung nach §§ 153, 153a StPO in Betracht gezogen werden könne. Gestern war es nun soweit.

Im Hintergrund steht die Annahme bzw. Befürchtung, der Prozess könne nicht in der Zeit bis zur absoluten Verjährung im Sommer 2020 zu einem ordentlichen Ende per Urteil gebracht werden. Man muss diesen Umstand im Hinterkopf behalten, wenn man die weiteren Erwägungen  des Gerichts aber auch die der anderen Beteiligten beurteilen will.  Deshalb: Wer jetzt die "Katastrophe nach der Katastrophe" (Heribert Prantl, SZ) beklagt und das derzeitig zuständige Gericht dafür verantwortlich machen will, liegt nicht völlig richtig. Die Anlässe und Ursachen einer erheblichen Verzögerung (über Jahre), liegen weit früher im Verfahren und teilweise lange vor der Anklageerhebung. Man hat sich seitens der Strafverfolgungsbehörden sehr lange, ich meine: zu lange, damit befasst, bestimmte Ursachen auszuschließen (insbesondere das polizeiliche Verhalten) und ist u.a. mit dem ersten beauftragten Gutachter schlecht gefahren. Das hat zur Nichtzulassung der Anklage geführt und quasi zu einer Ehrenrunde, bevor die jetzige Strafkammer mit dem Verfahren befasst wurde. Seit die Hauptverhandlung begonnen hat, so hat man den Eindruck, werden die komplexen Themen in der Beweisaufnahme vergleichsweise zügig behandelt, wenn auch vielen Zeugen inzwischen die Erinnerung verblasst ist bzw. sie sich glaubhaft darauf berufen können. Aber der Verjährungstermin rückt trotzdem näher, weshalb ich sogar ein gewisses Verständnis für die Bestrebung des Gerichts habe, eine andere Beendigung des Verfahrens zu erreichen bzw. zumindest auszuloten.

Der Zeitpunkt des Rechtsgesprächs, nämlich VOR dem prozessordnungsgemäßen Einbringen des wohl für das Verständnis des Geschehens entscheidenden Sachverständigengutachtens in die Hauptverhandlung, scheint mir jedoch sehr fragwürdig. Man kann ohne Wahrnehmung des Gutachtens und ohne dessen Würdigung die vermutete "Schuld" der Angeklagten gar nicht einschätzen. Aber über die (vermeintlich) geringe Schuld für § 153 StPO, "mittlere" für § 153a StPO wurde dann schon gestern Abend in der Presse heftig spekuliert, als erste INformationen über den Inhalt des Rechtsgesprächs ruchbar wurden. Insoweit handelte es sich demnach nicht um ein bloßes "Rechts-"Gespräch über die der Öffentlichkeit bereits aus der Beweisaufnahme bekannten Tatsachen und deren Würdigung, sondern gleichsam um eine Vorabwürdigung der Erkenntnisse aus dem Gutachten, das bisher gar nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war. Den Prozessbeteiligten liegt dies natürlich in schriftlicher Form bereits vor. Darin ist insbesondere die Komplexität der tödlichen Ursachenkette beschrieben und damit die mehrstufige Verantwortung für die Toten und Verletzten, wie sie u.a. hier im Blog bereits im Jahr 2010 konstatiert wurde. Nur dient diese Beschreibung jetzt dem Gericht nicht mehr als mögliche Grundlage für eine ebenfalls mehrstufige strafrechtliche Verantwortlichkeit, sondern dazu, die Schuld aller Angeklaggten als soweit minimiert anzusehen, dass man sie auch nach § 153 oder § 153a StPO abhandeln könne. Und vor dem Hintergrund  einer im WDR-Blog damals zitierten Aussage des Vors. Richters muss man das Rechtsgespräch auch als eine Vorankündigung in Richtung Urteil auffassen. Er soll damals gesagt haben: „Wenn wir wirklich hier zu einem bestimmten Zeitpunkt der Auffassung sind, dass eine Einstellung richtig ist, dann ist kein Raum mehr für eine Verurteilung.“

Aus Sicht der interessierten Öffentlichkeit, zu der ich mich zähle, ging es bislang um zweierlei: Zum einen um die Frage der Aufklärung der tatsächlichen Abläufe, die Aufklärung der Schuldanteile und der daraus resultierenden möglichen Bestrafung einzelner Angeklagter. Zum anderen ging es aus gesellschaftspolitischer Sicht darum zu belegen, dass die Strafjustiz in Deutschland überhaupt in der Lage ist, solche komplexen Geschehensabläufe mit gravierenden Folgen adäquat einer prozessordnungsgemäßen Antwort zuzuführen. Denn hier hat sich im gesamten Loveparade-Verfahren erneut eine eklatante Schwäche des strafjustiziellen Systems offenbart: Gerade bei größeren Katastrophen (Contergan, Flughafen Düsseldorf, Kölner Stadtarchiv) und bei komplexeren politisch brisanten Verfahren (Mannesmann, Spendenaffäre Kohl) weichen die Justizorgane gern auf die Einstellung aus oder kommen zu unbefriedigenden Ergebnissen, so der Eindruck. Leider, so sieht es aus, wird das auch im Fall Loveparade nicht anders kommen.

Für beide Fragen ist das Ergebnis des „Rechtsgesprächs“ von gestern also ernüchternd. Von einer „Katastrophe“ für den Rechtsstaat mag ich nur deshalb nicht sprechen, weil man noch vor nicht einmal drei Jahren damit rechnen musste, dass ein Hauptverfahren gar nicht zustande kommen würde. Und insofern ist man immerhin noch ein ganzes Stück weitergekommen. Wenn auch das (zu) frühe Rechtsgespräch die Früchte der bisherigen Hauptverhandlung entwertet.

Seit dem gestrigen Rechtsgespräch scheint es nämlich nur noch um zwei Fragen zu gehen, nämlich

1. darum, welche der Angeklagten mit einer Einstellung nach § 153 StPO und welche mit einer Einstellung unter (Geld-)Auflagen nach § 153a StPO rechnen dürfen sowie

2. darum, wer die erheblichen Auslagen der Nebenkläger zu tragen hat.

Insofern können jetzt die im „Deal“ zu berücksichtigenden Positionen näher aufgeschlüsselt werden.

zu 1.:

a) das Gericht stellt in den Raum, dass nach (vorläufiger) Würdigung der bisherigen Beweisaufnahme und des bislang nur schriftlich vorliegenden Vorab-Gutachtens Gerlach für alle Angeklagten eine Einstellung in Betracht komme. Dabei sei noch offen, ob § 153 oder §153a StPO zur Anwendung kommen sollte. Die dazu angedeutete Position des Gerichts, es sei eine größere Schuld bei denjenigen Angeklagten anzusiedeln, die noch am Tag der Veranstaltung vor Ort Aufgaben zu erledigen hätten und möglicherweise das Schlimmste noch hätten verhindern können, ist meines Erachtens zu schlicht. Die größere Verantwortung sehe ich darin, dass jemand längere Zeit bei der Vorbereitung des Großereignisses mitgewirkt hat und dabei alle Anzeichen für Gefahren zur Seite geschoben hat.

b) die Staatsanwaltschaft ist bisher der Auffassung, dass insbesondere wegen der gravierenden Folgen bei keinem der Angeklagten eine sanktionslose Einstellung nach § 153 StPO in Betracht zu ziehen sei.

c) einige Strafverteidiger haben geäußert, dass sie eine Einstellung nach § 153a StPO ausschließen, aber in der Diskussion mit ihren Mandanten diesen wohl die Zustimmung zu einer Einstellung nach § 153 StPO empfehlen würden, selbst wenn sie jeweils das Ziel eines Freispruchs immer noch für erreichbar hielten.  

d) einige Nebenklagevertreter haben im Rechtsgespräch geäußert, sie könnten sich angesichts der drohenden Verjährung und der Einschätzung des Gerichts mit Einstellungen nach § 153a StPO dann abfinden, wenn zugleich deutliche Aussagen hinsichtlich der Verantwortlichkeiten als Grundlage für Schadenersatzforderungen gemacht würden. Auch sei es nicht verständlich, wenn die Auslagen der Nebenkläger am Ende höher ausfielen als die Geldauflagen, die die Angeklagten ggf. zu zahlen hätten.

Da momentan  Staatsanwaltschaft und Verteidigung, die beide einer Einstellung zustimmen müssten, nicht auf einer Linie sind, ist unmittelbar noch nicht mit der vom Gericht gewünschten Einstellung zu rechnen. Aber sehr weit auseinander liegen die Positionen nicht. Für einige der Angeklagten dürfte eine zu zahlende Geldauflage kein Tabu sein, zumal damit die jahrelange Unsicherheit über einen möglichen Schuldspruch beendet werden könnte. Die Nebenkläger haben hier kein Vetorecht.

zu 2.: Zum Hintergrund der Kostenfrage ist zu bemerken, dass § 472 Abs.1 StPO vorsieht, dass die Kosten der Nebenklage grds. vom Angeklagten getragen werden, wenn er verurteilt ist. Nach § 472 Abs. 2 ist es bei einer Einstellung in das Ermessen des Gerichts gestellt, ob den Angeklagten die Kosten auferlegt werden oder diese der Nebenkläger selbst zu tragen hat; letzteres wäre der Regelfall. Bei den Nebenklagekosten geht es v.a. um die Anwaltskosten, die bei einer zeitlich so aufwändigen Hauptverhandlung recht hoch sind, zumal sich etliche Nebenkläger angeschlossen haben – allein 28 Rechtsanwälte, die teilweise mehrere Nebenkläger vertreten, waren beim Rechtsgespräch anwesend..

Das Gericht hat hierzu dargelegt, dass die Nebenklagekosten wohl nicht den Angeklagten auferlegt werden könnten, da dies eine zusätzliche Strafwirkung haben könne, die bei der geringen bis „mittleren“ Schuldschwere nicht berechtigt sei, zumal dies ohne Verurteilung auch der Unschuldsvermutung widersprechen könne.  

Außerhalb der Hauptverhandlung haben Nebenkläger, aber auch andere Angehörige und selbst Betroffene ihrer Erschütterung darüber Ausdruck gegeben, dass zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt eine Einstellung des Verfahrens erwogen werde. Eine Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld bzw. unter Umständen, die es erlauben, das öffentliche Verfolgungsinteresse durch eine Auflage zu beseitigen, erscheine vor dem Hintergrund der schweren Folgen in der Tat ohne Beispiel.

Links:

Der gerichtliche Vermerk im Wortlaut.

Stellungnahme der Staatsanwaltschaft.

Update (01.02.2019):

Wie mir von einem regelmäßigen Beobachter der Hauptverhandlung berichtet wurde, hat vorgestern einer der Verteidiger für seinen Mandanten das gerichtliche Angebot einer Einstellung des Verfahrens nach §§ 153, 153a StPO zurückgewiesen: "Es hätten seit dem Rechtsgespräch intensive Gespräche zwischen W. und seinen Anwälten stattgefunden; Fazit: W. könne mit Freispruch, Verurteilung und einem Ende des Verfahrens wegen Verjährung weiter leben. Nicht aber mit einer Einstellung. (Der Vorsitzende Richter) Plein war sichtlich überrascht."
Damit ergibt sich eine neue Situation insofern, als die Hauptverhandlung offenbar jedenfalls gegen diesen Angeklagten fortgesetzt werden muss, denn während des Hauptverfahrens bedarf die Einstellung der Zustimmung des Angeklagten. Was dies praktisch bedeutet, wenn man die Ansage des Vorsitzenden Richters vom Oktober ernst nimmt  (wdr-Blog zitierte ihn damals so: „Wenn wir wirklich hier zu einem bestimmten Zeitpunkt der Auffassung sind, dass eine Einstellung richtig ist, dann ist kein Raum mehr für eine Verurteilung.“ ), darüber kann man derzeit nur spekulieren. Aus meiner Sicht hat damit nämlich der Vorsitzende, wenn er es ernst gemeint hat,  vorab jedes Druckmittel aus der Hand gegeben. Spannend wird es nächste Woche, wenn auch die anderen Stellungnahmen und auch diejenigen der Nebenkläger bekannt werden.

Update (5.2.2019)

Die Staatsanwaltschaft hat der geplanten Einstellung heute zugestimmt und erklärt, dass eine Einstellung nach § 153 StPO bei sieben der Angeklagten zugestimmt werde, bei drei der Angeklagten (alle Mitarbeiter von Lopavent) werde einer Einstellung nach § 153a StPO (unter Geldauflagen in Höhe von ca. 10000 Euro). Nach bisherigen Informationen, sind diese drei Angeklagten aber nicht einverstanden mit einer Einstellung unter Geldauflagen.

Ich halte es für zumindest fragwürdig, dass bisher die Meinung der Schöffen, die durch ihr Votum eine Einstellung verhindern könnten, nicht berücksichtigt wurde, weil sie von entscheidenden Argumenten der Berufsrichter (entnommen dem noch nicht eingeführten Gutachten) noch nichts wissen dürften: Es ist aber "das Gericht", das das Verfahren einstellen muss, nicht nur die drei Berufsrichter.

Morgen, am 6.2.2019, gegen  Mittag, wird in Düsseldorf ein Pressegespräch mit zwei Nebenklägern stattfinden, in deren Stellungnahme bisher nicht bekannte Tatsachen aus dem Loveparade-Komplex mitgeteilt werden, verbunden mit der öffentlichen Forderung, das Verfahren nicht einzustellen, bevor nicht diese wesentlichen Tatsachen noch aufgeklärt sind. Ich werde bei diesem Pressegespräch in Düsseldorf anwesend sein und eine eigene ergänzende Stellungnahme abgeben. Ich  bitte Sie um freundliche Beachtung der Pressemeldungen am morgigen Tag.

Selbstverständlich werde ich die Stellungnahme auch hier im Blog veröffentlichen, in einem neuen Beitrag.

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Links zu früheren Beiträgen und Diskussionen hier im Beck-Blog und weiteren wichtigen Informationen, die im Netz verfügbar sind:

November 2018: Loveparade Duisburg 2010 – die Mühen der Ebene in der Hauptverhandlung (ca. 3300 Abrufe)

September 2018: Loveparade Duisburg 2010 - nach mehr als acht Jahren: Gerlach-Gutachten belegt Ursachenkomplex mit Polizeibeteiligung (ca. 1700 Aufrufe)

Juli 2018: Loveparade 2010 in Duisburg - acht Jahre später (11 Kommentare, ca. 2700 Aufrufe)

März 2018: Loveparade 2010 - Der Gullydeckel/Bauzaun-Komplex in der Hauptverhandlung (11 Kommentare, ca. 3500 Aufrufe)

Dezember 2017: Loveparade 2010 - die Hauptverhandlung beginnt (69 Kommentare, ca. 10000 Aufrufe)

Juli 2017: Loveparade 2010 - sieben Jahre später: Hauptverhandlung in Sichtweite (61 Kommentare, ca. 5100 Aufrufe)

April 2017: Loveparade 2010 – OLG Düsseldorf lässt Anklage zu. Hauptverhandlung nach sieben Jahren (105 Kommentare, ca. 7500 Aufrufe)

Juli 2016: Loveparade 2010 - nach sechs Jahren noch kein Hauptverfahren (76 Kommentare, ca. 9200 Abrufe)

April 2016: Loveparade Duisburg 2010 - Fahrlässigkeiten, 21 Tote, keine Hauptverhandlung? (252 Kommentare, ca. 115000 Abrufe)

Juli 2015: Fünf Jahre und kein Ende – die Strafverfolgung im Fall Loveparade 2010 (98 Kommentare, ca. 11000 Abrufe)

Februar 2015: Was wird aus dem Prozess? (72 Kommentare, ca. 8000 Aufrufe)

August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 9000 Abrufe)

Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 16000 Abrufe)

Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 16500 Abrufe)

Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 14000 Abrufe)

Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 30000 Abrufe)

Juli 2011: Ein Jahr danach, staatsanwaltliche Bewertung sickert durch (249 Kommentare, ca. 39000 Abrufe)

Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 37000 Abrufe)

Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 26500 Abrufe)

September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 43000 Abrufe)

Juli 2010: Wie wurde die Katastrophe verursacht - ein Zwischenfazit (465 Kommentare, ca. 51000 Abrufe)

Ergänzend:

Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:

Loveparade2010Doku

speziell: Illustrierter Zeitstrahl

Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010

Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)

Weitere Links:

Artikelsammlung zur Loveparade auf LTO

Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW

Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)

Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)

Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)

Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)

Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.

Rechtswissenschaftlicher Aufsatz von Thomas Grosse-Wilde: Verloren im Dickicht von Kausalität und Erfolgszurechnung. Über "Alleinursachen", "Mitursachen", "Hinwegdenken", "Hinzudenken", "Risikorealisierungen" und "Unumkehrbarkeitszeitpunkte" im Love Parade-Verfahren, in: ZIS 2017, 638 - 661.

Der Anklagesatz

Blog des WDR zur Hauptverhandlung (Berichte über jeden Prozesstag)

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162 Kommentare

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Naja, nachdem die anwaltliche Vertretung der Nebenklage die prozessualen Optionen, die ihnen das Ermittlungserzwingungsverfahren (im Netz seit 13. Oktober 2015) auf der Grundlage des  Anspruch auf Strafverfolgung Dritter (im Netz seit 25. September 2015) geboten hätte, über Jahre ungenutzt verstreichen ließ, ist es in der Tat höchste Zeit, "in den Remishafen einzufahren".  

"Von einer „Katastrophe“ für den Rechtsstaat mag ich nur deshalb nicht sprechen, weil man noch vor nicht einmal drei Jahren damit rechnen musste, dass ein Hauptverfahren gar nicht zustande kommen würde. Und insofern ist man immerhin noch ein ganzes Stück weitergekommen."

Das sehe ich gänzlich anders. Wir wären viel weiter, viele (vorhersehbare) Enttäuschungen wären nicht entstanden, wenn das Hauptverfahren nicht eröffnet worden wäre. So stellt sich nur die Frage, ob jetzt eingestellt wird oder das Verfahren mit Verjährungseintritt endet.

Der Grundfehler dieses Verfahrens liegt m.E. daran, dass es keine zügige Anklage gegen die sichtlich Verantwortlichen, d.h. gegen den OB und den Veranstalter, gegeben hat. Selbst wenn man dann dabei zu einem Freispruch bei einem oder beiden gekommen wäre (wofür ich nach wie vor jedenfalls beim OB keinen Grund sehe), hätte man dem Ereignis damit hinreichend Rechnung getragen.

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Es ist widersprüchlich, was Sie sagen: Hätte man die ganze Sache lieber gleich ganz von vornherein sein lassen sollen, weil viel zu kompliziert, oder hätte man lieber schnell einen Schuss ins Dunkle abgeben sollen in der Hoffnung, irgendwas oder irgendwen zu treffen?  

Ob Staatsanwaltschaft, Nebenklage oder Gericht an dem von Anfang an absehbaren Ergebnis die Hauptschuld tragen, sei dahingestellt. So oder so ist das Ergebnis eine Schande.

Die Justiz zeigt sich erneut unfähig, komplexe Sachverhalte abzuarbeiten. Und mit "komplex" meine ich hier Vorgänge, die über "A haut dem B auf die Nase" hinausgehen. Die Welt ist schwieriger geworden - daran muss sich insbesondere die Arbeitsweise der Staatsanwaltschaften anpassen.

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Da haben Sie natürlich Recht. Worauf ich rauswill: Die anwaltlichen Vertreter der Nebenklage haben an dem Desaster schon auch eine Mitschuld, weil sie jahrelang geschlafen haben. 

Das sind sehr vollmundige und kollegial gänzlich ungewöhnliche Worte gegen die dort tätigen Kollegen, insbes. wenn man die Akte nicht kennt. Haben Sie dafür vielleicht auch tragfähige Belege?

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Ich kann das nicht so richtig erkennen. Ein Klageerzwingungsverfahren (und alles weitere) wäre bei den jetzt Angeklagten mit großer Sicherheit unzulässig gewesen. Allenfalls bei den zunächst beschuldigten, dann aber nicht angeklagten Polizeibeamten könnte man so vorgegangen sein, mit m.E. sehr sehr mäßigen Erfolgsaussichten.

Ich spreche auch nicht von einem Klageerzwingungsverfahren (KlEV), sondern von einem Ermittlungserzwingungsverfahren (EEV). Bei einem EEV können Sie gezielt einzelne Ermittlungsschritte (hier z.B. die Beauftragung eines zweiten Gutachters) erzwingen, bei einem KlEV bräuchten Sie eine überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit.  Ein KlEV kam hier, beim Fall Loveparade, auch nie ernsthaft in Frage, denn ein KlEV würde nämlich den vollständigen Abschluss der Ermittlungen voraussetzen, erst dann wäre eine entsprechender Antrag beim OLG erfolgversprechend.

können Sie gezielt einzelne Ermittlungsschritte (hier z.B. die Beauftragung eines zweiten Gutachters) erzwingen

Ein Ermittlungserzwingungsverfahren kommt in Betracht, wenn die Staatsanwaltschaft nach einer Strafanzeige bereits den Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2 StPO) ohne jegliche Aufklärung des tatsächlichen Sachverhalts (aus rechtlichen Gründen) verneint und überhaupt kein Ermittlungsverfahren durchführt. "Gezielt einzelne Ermittlungsschritte" kann man so nicht durchsetzen. Ihre Auffasung (s. o.) ist - schon wieder - völlig verfehlt.

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Doch, "gezielt einzelne Ermittlungsschritte" kann man so durchsetzen.

Nein. Sie irren! Damit kann man nur die Aufnahme der Ermittlungen überhaupt erreichen (vgl. Plöd in KMR § 172 Rdn. 78). Die "Ermittlungserzwingung" bedeutet die Anweisung, die Ermittlungen aufzunehmen und zu einem Abschluss zu führen (vgl. OLG Nürnberg, B. v. 28.06.2016 - 1 Ws 231/16). Selbst das von Ihnen infizierte, bzw. kontaminierte, Wikipedia schreibt nichts anderes. Alles andere wäre ja auch systemwidrig. Die Staatsanwaltschaft ist die "Herrin des Ermittlungsverfahrens" und nicht ein Nebenkläger oder sonst Berechtigter, der die Staatsanwaltschaft ständig mit zahllosen bestimmten Ermittlungswünschen vor sich her treiben könnte. Sie kleistern sich ständig eine neue Rechtslage zusammen, je nach freiem Belieben...

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Das schreibt sogar ein gewisser, ein in seinem Sturm und Drang sonst bekanntlich übermäßig übereifriger und deshalb nicht zitabler Herr Würdinger, vgl.: "Der Antragsteller verfolgt mit dem Ermittlungserzwingungsantrag gerade nicht die Erhebung der öffentliche Klage nach der Durchführung eines vollständigen Ermittlungsverfahrens, sondern der Antragsteller verfolgt mit dem Ermittlungserzwingungsantrag ein anderes Ziel: Der Antragsteller will mit dem Ermittlungserzwingungsantrag erreichen, dass der Strafsenat des OLG die Staatsanwaltschaft dazu verpflichtet, sich überhaupt erst ernsthaft mit der von dem Antragsteller erstatteten Strafanzeige zu befassen und den vom Antragsteller unterbreiteten Sachverhalt einer ernsthaften strafrechtlichen Überprüfung zu unterziehen" (HRRS 2016, 29). Von "gezielt einzelne Ermittlungsschritten" ist nicht einmal dort die Rede.

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Daneben ist die Ergänzung der Ermittlungen selbstverständlich zulässig, vgl. statt aller Meyer-Goßner/Schmitt, Rn. 1b zu § 172 StPO. 

Von "gezielt einzelnen Ermittlungsschritten" steht da gar nichts. Sie fantasieren. Aus den "Extremen" (s. o.) zu schließen, das müsse dann auch im Normalfall gelten, ist unzulässig. Die Erzwingungsverfahren gelten nur für ganz schlimme Extreme, nicht für den Normalfall des von der Staatsanwaltschaft beherrschten Ermittlungsverfahrens, andernfalls man es mit einem Ermittlungsverfahren zu tun bekäme, das der StPO völlig fremd ist.

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Die Anordnung weiterer Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft geschieht dann, wenn diese entweder gar nicht oder in einem Kernbereich der zu untersuchenden Tat nur unvollständig ermittelt hat und umfangreiche Nachforschungen vom Oberlandesgericht für notwendig gehalten werden.[1][6]

Die von Ihnen bekanntlich kontaminierte Wikipedia ist zum Nachweis leider überhaupt nicht geeignet. Insbesondere besagt aber auch die dort zitierte Entscheidung des OLG München, dass es nur um das "überhaupt nicht" geht, also nicht um spezielle Ermittlungsschritte, vgl.: "Dennoch ist in Fällen, in denen -wie hier- die StA den Anfangsverdacht aus rechtlichen Gründen verneint und deshalb den Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht überhaupt nicht aufgeklärt hat, ausnahmsweise das gerichtliche Verfahren nach §§ 172 ff. StPO nicht als Klage-, sondern als Ermittlungserzwingungsverfahren zu behandeln, das gegebenenfalls auch mit der Anweisung an die StA enden kann, die erforderlichen Ermittlungen durchzuführen" (OLG München, Beschluss v. 27.06.2007 - Az.: 2 Ws 494/06 Kl = NJW 2007, 3734).

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Vielleicht sind Sie ja - neben allen anderen Argumenten - dem Erst-recht-Argument zugänglich: Wenn die StA in Fällen, in denen diese keinen Anfangsverdacht angenommen hatte, vom OLG zu Ermittlungen verpflichtet werden kann, dann gilt dies natürlich erst recht in denjenigen Fällen, in denen die StA bereits von sich aus einen Anfangsverdacht angenommen hatte. 

...natürlich erst recht

Schon wieder ein Fehlschluss! Eine Staatsanwaltschaft, die bereits ermittelt, kann nicht mehr zu Ermittlungen verpflichtet werden. Das OLG ist keine Dienstaufsichtsbehörde. Und die Staatsanwaltschaft ist die Herrin des Ermittlungsverfahrens.

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Doch, die StA kann natürlich vom OLG zu weiteren Ermittlungen verpflichtet werden, wenn die Ermittlungen unzureichend waren, das ist st. Rspr. seit 1980. 

Denken Sie doch mal nach: Wir sind uns einig, dass der Verletzte sowohl dann

1) wenn gar nicht ermittelt wurde (das eine Extrem) 

2) als auch dann, wenn Anklagereife besteht, also bereits vollständig ermittelt wurde (das andere Extrem)

seinen Anspruch auf Strafverfolgung Dritter gerichtlich durchsetzen kann. Können Sie mir erklären, warum der Verletzte dann "in der Zone zwischen diesen beiden Extremen" gehindert sein sollte, seinen Anspruch auf Strafverfolgung Dritter gerichtlich durchsetzen zu können?

Können Sie mir erklären...

Weil es im Gesetz (und selbst bei Würdinger (!)) nicht vorgesehen ist und die Staatsanwaltschaft die "Herrin des Ermittlungsverfahrens" ist.

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Quatsch, die Ergänzung der Ermittlungen ist ständige Rspr. seit 1980. 

Beachten Sie OLG Bremen, Beschl. v. 21.09.2017 - 1 Ws 55/17

Leitsatz: 1. Anordnung des Beschwerdegerichts im Klageerzwingungsverfahren, dass die Staatsanwaltschaft die nach der Rechtsauffassung des Beschwerdegerichts erforderlichen Ermittlungen durchzuführen hat.
2. Hat die Staatsanwaltschaft die Aufnahme von Ermittlungen aus Rechtsgründen abgelehnt oder diese völlig unzureichend durchgeführt, gebietet die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG die Aufhebung der Einstellungsentscheidung und die Anordnung der Aufnahme oder Fortsetzung der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft. Nach Abschluss der Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft sodann erneut über die Einstellung des Verfahrens oder die Erhebung der Anklage zu entscheiden.

Da geht es um ein Klageerzwingungsverfahren und nicht um ein Ermittlungserzwingungsverfahren! Steht doch ausdrücklich im LS 1.

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Außerdem heißt es im Tenor "Die Aufnahme der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft Bremen wird angeordnet". Von "bestimmten Ermittlungsschritten" ist nicht die Rede.

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Beides sind bekanntlich miteinander verwandte Verfahren nach den §§ 172 ff StPO. Sie konstruieren Pseudo-Probleme, die es in Wahrheit gar nicht gibt. 

Auch wenn der Herr Kollege Burhoff in seiner Bearbeitung die Entscheidung des OLG Bremen als eine Entscheidung in einem  "Klageerzwingungsverfahren" tituliert hat, so handelt es sich doch der Sache nach um eine Entscheidung in einem Ermittlungserzwingungsverfahren.

Das hat nichts mit Burhoff zu tun. Das steht im Beschluss des OLG Bremen selbst, vgl.: "B E S C H L U S S in dem Klageerzwingungsverfahren...". Das OLG kann nicht mehr tun, als das OLG Bremen getan hat, wenn es tenoriert "Die Aufnahme der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft Bremen wird angeordnet."

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Es ist nicht nachvollziehbar, wo Sie ein prozessuales Problem sehen wollen, das nicht existiert. 

Es bleibt dabei: Während des Laufs eines Ermittlungsverfahrens kann kein spezieller Ermittlungsschritt durchgesetzt werden. Das ist möglich, wenn 1) entweder überhaupt kein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird oder wenn 2) eingestellt wird, ohne dass genügend ermittelt wurde. Aber nur dann und nicht dazwischen.

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Die Klärung ist längst eingetreten: Es gibt eine glasklare Rechtsprechung seit 1980, die die Ergänzung von Ermittlungen, erzwungen durch ein erfolgreiches EEV, vorsieht, ganz einfach. 

Die Justiz zeigt sich erneut unfähig, komplexe Sachverhalte abzuarbeiten

Manchmal gibt es aber auch einfach keine schuldigen Täter im Sinne des Strafrechts, auch wenn man noch so lange gräbt, baggert und wühlt. Nicht jeder Unfall gebiert einen Schuldigen.

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Ja, das ist manchmal so, stimmt. In diesem Fall sehe ich es anders.

Gast schrieb:
Manchmal gibt es aber auch einfach keine schuldigen Täter im Sinne des Strafrechts, auch wenn man noch so lange gräbt, baggert und wühlt. Nicht jeder Unfall gebiert einen Schuldigen.

Das Ergebnis "kein Schuldiger" wird durch einen Freispruch ausgedrückt. Hier aber soll eingestellt werden. Denn sowohl für Freispruch wie auch für Verurteilung müsste man den (sehr komplexen) Sachverhalt aufarbeiten, wozu man sich offenbar nicht in der Lage sieht - und vielleicht auch tatsächlich nicht ist.  Nicht einmal für einen Freispruch "aus Mangel an Beweisen", wenn man mir diese Verkürzung erlaubt, wurde der Fall ausreichend abgearbeitet. Und das kritisiere ich.

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Das schreibt die LTO-Presseschau heute:

LG Duisburg – Loveparade: In einer öffentlichen Erklärung hat der Vorsitzende Richter im Loveparade-Verfahren vor dem Landgericht Duisburg, Mario Plein, die Ergebnisse des Rechtsgesprächs zu einer möglichen Verfahrenseinstellung präsentiert. Dies berichten SZ (Christian Wernicke), FAZ (Reiner Burger)spiegel.de (Lukas Eberle), focus.de (Axel Spilcker) und Welt (Kristian Frigelj). Bei einer Massenpanik im Juli 2010 waren 21 Menschen gestorben. Zehn Beschuldigten wird vorgeworfen, dies durch Planungsfehler verursacht zu haben. Richter Plein schlug vor, das Verfahren gegen sieben der Angeklagten wegen geringer Schuld einzustellen, gegen drei weitere Angeklagte komme eine Einstellung gegen eine Geldzahlung in Betracht. Zu ihren Gunsten sei zu berücksichtigen, dass es im Jahr 2010 keine gesetzlichen und organisatorischen Vorgaben für die Planung einer solchen Großveranstaltung gegeben habe. Zudem habe sich um ein kollektives Versagen einer Vielzahl von Personen gehandelt. Das Gericht hat den Verfahrensbeteiligten bis zum 5. Februar Zeit gegeben, sich zu dem Vorschlag zu äußern. Die SZ (Regina Steffens/Nora Reinhardt) stellt die Chronologie der Ereignisse und den Verfahrensgang vor.

Reiner Burger (FAZ) weist darauf hin, dass eine Einstellung ein fehlendes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung voraussetze. Diese Annahme könne hier "nur schwer zu begründen sein". Wenn eine Hauptverhandlung hingegen ergebe, dass keine Einzelperson für das Geschehen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könne, dann sei dies zu akzeptieren. 

Die LTO-Presseschau schreibt heute morgen:

LG Duisburg – Loveparade-Verfahren: Ex-BGH-Richter Thomas Fischer erläutert in einer Kolumne auf spiegel.de die rechtlichen Grundlagen von Verfahrenseinstellungen, wie sie jetzt auch beim Loveparade-Verfahren vor dem Landgericht Duisburg im Raum steht. Im konkreten Fall mahnt der Autor, nicht gleich wieder in den Reflex zu verfallen, der Justiz vorzuwerfen, sie "schaffe es nicht, ein Urteil hinzukriegen", oder sei daran gar nicht interessiert oder zu bequem. Es spräche wirklich nichts dafür, dass die nordrhein-westfälische Justiz sich die Sache leicht gemacht hätte oder leicht machen wolle, meint Fischer.

Auch Jost Müller-Neuhof (Tsp) meint, dass Verfahrenseinstellungen Alltag in der Strafjustiz seien und man beim Loveparade-Verfahren keine anderen Maßstäbe anlegen dürfe. Ohnehin sei das infrage kommende Delikt, trotz der dramatischen Folgen für die Opfer, keine schwere Straftat.

Liest man den Vermerk zum "Rechtsgespräch", so ist der ehere apologetisch als dialogisch angelegt.
Gespräch geht anders.
Bereits auf Seite drei des Vermerkes heisst es.

Vermerk zum Rechtsgespräch schrieb:

Wenn man unterstelle, dass den Angeklagten die mit der Anklageschrift
der Staatsanwaltschaft Duisburg vom 10. Februar 2014 vorgeworfene
Tat in der Hauptverhandlung nachgewiesen werden könnte, dürfte die
Schuld der Angeklagten gleichwohl im noch geringen bis allenfalls mittleren Bereich liegen.

Das kann man nun wirklich nicht behaupten. Dazu ist es viel zu früh. Es gibt vielmehr zahlreiche sich erhärtende Fakten, das (zumindest einzelne Angeklagte, die unwahrheit gesagt und getäuscht haben, was deutlich über "mittlere Schuld" hinaus gehen dürfte.

Mir stellen sich folgende Fragen:

  • Ist es generell schuldmindernd "dass das Geschen bereits achteinhalb Jahre zurückliege"? (Seite 4)
    Trägt der vom Gericht angestrengte Vergleich mit dem BGH Beschluss vom 21. Dezember 2006?
    Ist diese Schuldminderung durch Dauer des Verfahren bei den Tatbeständen, über die der BGH zu urteilen hatte, "Untreue" genau gleich, wie bei einem Komplexen Geschehen wie der "Loveparade Katastrophe"?
  • Was stimmt denn nun?
    Ist "lediglich Unterlassen zugunsten der Angeklagten" zu werten und führt automatisch zu einer "Strafrahmenverschiebung"?
    Oder:
    ist " bei Fahrlässigkeitstaten ein Unterlassen vielfach nicht weniger strafwürdig (...) als ein positives Tun"? (Seite 4)
  • Taugt das BGH Urteil vom 19. Februar 199 als Vergleich.
    Eine Assistentin hatte einer Narkoseärztin ein falsches tödliches Medikament bereit gestellt.
    Ist es wirklich gleichgültig, welche Pflichtwidrigkeit vor der anderen geschah?
  • Wie kommt das Gericht auf "575 weitere Zeugen, und dass ein überweigender Teil zu vernehmen sei"? (Seite 16)
    Muss man auf diese Tatsache nicht mit häufigeren Sitzungstagenstatt mit Einstellung reagieren?

Sehr geehrter Herr Evers,

ich versuche eine kurze Antwort auf ihre Fragen:

1. Die Dauer des Verfahrens und die damit auch gegebene Belastung der Beschuldigten/Angeklagten kann durchaus "straf"mindernde Bedeutung haben, sie muss sogar in der Strafzumessung berücksichtigt werden, wenn eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung eingetreten ist; generell "schuld"mindernd ist die Verfahrensdauer aber nicht. Insofern ist auch der Formulierung in BGH 3 StR 240/06 - Beschluss vom 21. Dezember 2006 - zu widersprechen. Dieser Beschluss, mit dem die Einstellung nach § 153 Abs.2 StPO in einem Verfahren wg. Untreue (rechtswidrige Parteispende) erging, ist nicht nur deshalb  wenig vergleichbar, weil es dort nicht um fahrlässige Tötung in 21 Fällen und fahrl. Körperverletzung in vielen weiteren  Fällen ging, sondern auch deshalb, weil in jenem Verfahren zuvor schon ein erstinstanzlicher Freispruch ergangen war.

2. Die Strafrahmenverschiebung nach § 13 Abs.2 StGB ist fakultativ, also keinesfalls "automatisch". Die Ausführungen des Gerichts sind an dieser Stelle nicht zielführend: Es wird etwas in den Raum gestellt, aber gleich wieder zurückgenommen.

3. Der Beschluss (nicht Urteil) BGH 2 StR 416/98 - Beschluss vom 10. Februar 1999 -, mit dem das Verfahren wg. fahrl. Tötung gegen eine Ärztin nach § 153 Abs.2 StPO eingestellt wurde, betrifft einen mit dem hiesigen Fall nicht vergleichbaren Sachverhalt. Insbesondere kann daraus nicht der Satz hergeleitet werden, dass, wenn mehrere Personen auf mehreren Ebenen fahrlässig gehandelt haben, dass dann deren einzelne Schuld geringer sei. Das ist gerade die m.E. fehlerhafte Vorstellung, gegen die ich seit Juli 2010 in diesem Blog argumentiert habe. 

4. Ich weiß nicht, wie das Gericht darauf kommt. Wie an anderen Stellen des Vermerks wird hier das bislang nicht in das Verfahren eingebrachte Fachgutachten benutzt, um weitestreichende Folgen herzuleiten. Generell ist das Gericht nicht gezwungen, sämtliche als Auskunftspersonen in Betracht kommende Zeugen auch tatsächlich zu laden und zu vernehmen. Wenn das Gericht einen Sachverhalt für ausermittelt bzw. aufgeklärt hält, kann es die Beweisaufnahme schließen. Es ist dann an den weiteren Prozessbeteiligten ggf. noch weitere Beweismittel zu benennen. Insbesondere müssen nicht Zeugen gehört werden, die allenfalls wiederholen, was vorherige Zeugen schon ausgesagt haben. Hier verbirgt sich eine widersprüchliche Beweisantizipation: Einerseits meint das Gericht, es könne aufgrund der bisherigen Hauptverhandlung schon Aussagen zur geringen oder "mittleren" Schuld treffen, andererseits seien noch derart viele Zeugen zu hören, deren Aussagen man ja noch gar nicht kennen kann.

Mit besten Grüßen

Henning Ernst Müller

Eigentlich muss man das Thema noch viel grundsätzlicher angehen. Die Überschrift heißt wörtlich übersetzt "Die Kunst des Geschäfts". Wenn man die Überschrift so profan übersetzt, wird klar, dass der Prozess längst alles Hehre verlassen hat und es nur noch um ökonomische Fragen geht, wie etwa die Frage, welchen Teil der Gebühren, die die Hinterbliebenen ihren famosen Anwälten gezahlt haben, sie qua irgendeiner Art von Erstattung aus der Staatskasse zurückerhalten können. Aber zurück zum Grundsätzlichen: In der Strafjustiz werden inzwischen schon seit vielen Jahren Vergleiche aller Art geschlossen, ohne dass man die Vergleiche jeweils auch so nennen dürfte. Das findet seinen Grund darin, dass immer noch das Ideal des Legalitätsprinzips über dem Strafprozess schwebt, ein Ideal, das aber längst im gerichtlichen Alltag zerrieben wurde. Es ist also wirklich die Frage, ob man sich nicht endlich "ehrlich machen" sollte, die Dinge beim Namen nennen sollte und - im Fall des Loveparade-Verfahrens - dann eben auch das Geschäft, das es nunmehr mangels Masse abzuschließen gilt, Geschäft nennen sollte. 

Ich dachte, dies sei (fast) allen Lesern bekannt, aber ich möchte dann doch noch die Überschrift erklären: "The Art of the Deal" ist ein 1987 erschienenes Buch des derzeitigen US-Präsidenten (er hat es zwar nicht geschrieben, aber sein Name steht drauf), der sich auch im Übrigen damit rühmt, ein besonders guter Verhandler zu sein. Ob dies zutrifft, möge jeder an dessen politischen Erfolgen ablesen. Ich räume ein, ich wollte mit der Überschrift ein bisschen mehr Aufmerksamkeit erregen als es eine rein sachliche getan hätte. Sachliche Kritik ist in der Überschrift aber durchaus mitgemeint: Allgemein sind die in der Praxis gepflegten Absprachen, die sich seit ca. 30 Jahren enorm verbreitet haben, der Strafrechtswissenschaft etwas suspekt (und werden daher etwas abwertend "Deal" genannt), weil sie im Gegensatz zum amerikanischen Strafprozess in dem auf das Ideal der Wahrheitsfindung angelegten deutschen Strafprozess eigentlich keinen Platz haben. Mittlerweile aber sind sie vom Gesetzgeber und den höchsten Gerichten unter bestimmten Voraussetzungen anerkannt. Diese offenbar vom Gericht langfristig vorbereitete Initiative zur Beendigung der Hauptverhandlung enthält einen besonderen Trick: Die Würdigung des Gutachtens (dem derzeit noch ausstehenden wichtigsten Beweismittel) wird vom Gericht vorweggenommen, um daraus Argumente für die Einstellung zu gewinnen.  Um meine Kritik etwas zu abstrahieren: Hier wird jetzt zulasten der von der Katastrophe Betroffenen und der Öffentlichkeit gedealt. Ganz anders als manche hier in der früheren Diskussion unter Verkennung der Realitäten vermuteten: Das Gericht hat sich keineswegs befangen zugunsten der Nebenkläger geäußert, als es noch vor wenigen Wochen kundtat: "Sie sollten genau wissen: Mir ist es ein riesiges Anliegen, dass die Nebenkläger hier den maximalen Nutzen aus diesem Verfahren ziehen“. Jetzt zeigt sich nämlich, dass die nebenklägerische Befürchtung, das Gericht steuere eine vorzeitige Einstellung des Verfahrens an und sorge sich dabei keineswegs "maximal" um die Nebenkläger, viel realistischer war.

PS: Weil der Hinweis offenbar schon wieder nötig ist: Dieser juristische Fachblog pflegt eine sachliche und höfliche Auseinandersetzung. Wenn man sich an Höflichkeit und Sachlichkeit (on topic)  im Vortrag hält, eigentlich Grundregeln des Anstands unter erwachsenen Menschen, werden Beiträge auch nicht "gelöscht" oder "gesperrt". Insbesondere persönliche Anwürfe werden nicht geduldet, auch nicht spöttische Bemerkungen im Minutentakt. Der Beck-Blog hat nicht wie andere Diskussionsforen im Internet eine Vorkontrolle, sondern eine nachgelagerte Kontrolle durch den Verlag (und - seltener - durch den Beitragsersteller). Wer sich nicht an die Regeln halten kann oder will, findet im Internet genug Möglichkeiten sich zu äußern.

 

Grüß Gott Herr Prof. Müller,

Sie sprechen (wörtlich) von einem "Trick" des Gerichts, Sie schreiben "Diese offenbar vom Gericht langfristig vorbereitete Initiative zur Beendigung der Hauptverhandlung enthält einen besonderen Trick" Ich stehe ja nun bekanntermaßen der Justiz nicht so ganz unkritisch gegenüber, aber ich denke, dass diese Wortwahl in diesem Fall nicht angemessen ist. Ich halte es nicht für angebracht, nunmehr die Kammer des LG quasi zum Sündenbock dieses Verfahrens zu erklären, wo doch die anderen Prozessbeteiligten  - in meinen Augen vor allem die Vertreter der Nebenklage - sich in all den Jahren auch nicht allzu sehr mit Ruhm bekleckert haben. Allerdings mögen Sie in der Sache Recht haben, dass es besser gewesen wäre, vor dem "Vergleichsvorschlag" des Gerichts - das ist es ja der Sache nach - zunächst noch das Gutachten abzuwarten.       

 

Nein, Herr Würdinger,

ich habe das Gericht nicht zum Sündenbock gemacht. In meinem Beitrag habe ich vielmehr deutlich gemacht, dass die Fehler, die jetzt zum Zeitdruck führen, schon viel früher gemacht wurden. Allerdings sind nicht die Nebenkläger oder ihre Vertreter die "Herren" des Verfahrens, zu keiner Zeit. Ihren Vorschlag, sie hätten bei laufendem Ermittlungs- oder Hauptverfahren eingreifen sollen und damit diese Verfahren beschleunigt, halte ich für unausgereift. Natürlich können die Nebenkläger Beweisanträge stellen, aber sie jetzt dafür verantwortlich zu machen, dass das Verfahren 1,5 Jahre vor der Verjährung eingestellt werden soll, hat wenig Substanz, denn der Grund für die Einstellung sind ja nicht Ermittlungsdefizite oder dass die Staatsanwaltschaft sich (noch) weigert, bestimmte Aufklärungsschritte durchzuführen. Schließlich gibt es einen Sachverständigen, der die relevanten Tatsachen, nach allem, was ich weiß, ziemlich gut aufgeklärt hat - was würden denn die NK anderes (schnelleres!) beanspruchen können? Nur, weil es einen Hammer gibt (Klageerzwingung oder Ermittlungserzwingung), ist nicht jedes Problem plötzlich ein Nagel und nicht jeder, der einen Hammer besitzt, für die Problemlösung verantwortlich.

Ich spreche von "Trick", das ist kein bös gemeinter Ausdruck und schon gar keine Sünden-Zuweisung (sonst hätte ich ganz anders formuliert); es kam mir kein anderes Wort in den Sinn für diese Erklärung des Gerichts zu diesem Zeitpunkt, da sie m.E. den großen Widerspruch enthält, dass vor der Beweisaufnahme des Gutachtens bereits das Gutachten gewürdigt wird und entgegen seiner Ergebnisse schon einmal von geringer Schuld die Rede ist. Der Trick besteht darin, das Gutachten ganz nach Gusto des Vorsitzendne zu benutzen (auf fast jeder Seite des Vermerks), ohne es umfassend würdigen zu müssen - es ist ja schließlich noch nicht eingeführt. Da, wo der Vermerk etwa von ominösen 575 weiteren Zeugen spricht, "trickst" der Vorsitzende ebenfalls. Das Ganze geht übrigens an den Laienrichtern vorbei, die schließlich auch die Öffentlichkeit repräsentieren.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Den Staatsbürger interessiert vor allem: Schluss mit dem Kostenaufwand. Keine Belastung der Angeklagten mit Verfahrenskosten. 

Was Sie fordern, ist widersprüchlich. Denken Sie nochmal nach, dann sehen auch Sie den Widerspruch. Sie haben mit Ihrem Kommentar allerdings insofern Recht, als es wohl leider nur noch um ökonomische Fragen geht, vulgo, wer was zahlt.  

Viele -vorhersehbare- Enttäuschungen wären nicht entstanden, wenn das Hauptverfahren nicht eröffnet worden wäre. Die Eröffnung war der Fehler, für den der Steuerzahler wohl finanziell haften muss.

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