Loveparade 2010 - das letzte Kapitel des Verfahrens hat begonnen

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 06.02.2019
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Die wichtigste Nachricht heute ist nicht, dass das Verfahren Loveparade gegen sieben der Angeklagten nach § 153 StPO eingestellt wurde. Dies war spätestens seit dem 16. Januar abzusehen, einige Verfahrensbeteiligte haben die Vorbereitungen dazu schon weit früher wahrgenommen (vgl. früherer Beitrag). Die wichtigste Nachricht ist vielmehr, dass es (vorerst) weitergeht gegen die drei anderen Angeklagten.

Aber es wird wohl das letzte Kapitel werden in dieser langen Verfahrensgeschichte. Und ob es ein befriedigendes Ende nehmen wird, bleibt fraglich. Und auch wie lang dieses letzte Kapitel gegen die verbliebenen drei Angeklagten aus dem Lager der Veranstalterfirma Lopavent dauert, bleibt abzuwarten. Möglicherweise stimmen sie doch noch einer Einstellung zu, möglicherweise gibt auch die Staatsanwaltschaft nach und verzichtet auf Geldauflagen. Die absolute Verjährung tritt jedenfalls erst im Juli 2020 ein, und bis dahin fließt noch einiges Wasser den Rhein hinunter von der Düsseldorfer Messe durch einige Schleifen in Richtung Duisburg.

Aber Poesie beiseite: Die Verfahrenseinstellung war das Hauptmedienthema am heutigen Mittwoch, aber auch (einige) Nebenkläger und ihre Vertreter haben an diesem Tag die Chance genutzt, an die Öffentlichkeit zu gehen. Nachdem sich das naheliegende Ziel, dass überhaupt eine Hauptverhandlung stattfindet, viel zu spät verwirklicht hat, bleibt den Nebenklägern auch nur darauf hinzuwirken, dass in der verbliebenen Zeit bis zur Verjährung noch so viel wie möglich aufgeklärt wird. Bloße Gerüchte und Vermutungen über die Verantwortlichkeiten an dem Geschehen am 24. Juli 2010 sollen im Rückblick jedenfalls nicht überwiegen.

Ich bin heute nach Düsseldorf gefahren, um die Stellungnahme der Familie Mogendorf zu unterstützen und einem breiteren Publikum meine Stellungnahme zur Verfahrenseinstellung vorzustellen. Das dazu in einem Restaurant organisierte Pressegespräch war jedenfalls recht gut besucht.

Der Sohn der Mogendorfs kam bei der Loveparade 2010 ums Leben. Der Vater war als Bauingenieur früher u.a. mit der Errichtung von Veranstaltungsstätten befasst. Seine Expertise erlaubte es ihm, aus dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. Gerlach Informationen herzuleiten, die bislang in der Öffentlichkeit, auch nach über acht Jahren nicht bekannt geworden sind. Offenbar gab es gravierende Abweichungen zwischen den den Behörden vorliegenden Planunterlagen der Loveparade und den tatsächlichen Begebenheiten. Gerade an der Stelle, an der sich die Besucher dann stauten, am Rampenkopf, waren die Durchgangswege tatsächlich erheblich schmaler als auf den Planunterlagen. Zusammen mit den anderen eklatanten Abweichungen zwischen dem genehmigten Konzept und tatsächlichen Begebenheiten könnte dies auch die Fahrlässigkeitsschuld der (noch) Angeklagten betreffen.

Dies belegt für mich zudem auch einen wichtigen grundsätzlichen Aspekt: Die Berufsrichter und die Staatsanwaltschaft haben die Schuld der Angeklagten im Sinne des § 153 StPO als „gering“ oder jedenfalls im Sinne des § 153a StPO als reduziert angenommen. Begründet wurde diese Annahme zu einem erheblichen Teil mit einer zusammenfassenden Interpretation des sehr detaillierten Sachverständigengutachtens, das bisher noch nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war. Das Gericht hat nun heute in seiner vollständigen Besetzung, also einschließlich der Schöffen, über die Einstellung entschieden, so wie es § 153 Abs.2 StPO vorsieht, obwohl die Schöffen die von den Berufsrichtern genannte Grundlage für die Entscheidung gar nicht selbst beurteilen konnten, da sie nicht über Akteneinsicht verfügen.

Das ist nach meiner Auffassung ein Verstoß gegen einen wesentlichen Grundsatz des Hauptverfahrens, nämlich dass die tatsächlichen Grundlagen einer Entscheidungsfindung in der Hauptverhandlung bereits erörtert worden sind.

Überhaupt verwundert es, dass der Sachverständige, nachdem er mit höchstem Aufwand ein schriftliches Gutachten verfasst hat, nun offenbar gar nicht mehr gehört werden soll. Die sinngemäße Begründung des Gerichts, die im Gutachten verwerteten Anknüpfungstatsachen machten eine (vorherige!) Anhörung von 575 Zeugen nötig, können jedenfalls andere Verfahrensbeteiligte mit Aktenkenntnis nicht ganz nachvollziehen. Diese Zeugenanzahl scheint im Gutachten nicht aufzutauchen. Und der Grundsatz, dass alle Anknüpfungstatsachen unbedingt VOR dem Gutachten eingeführt sein müssen, erscheint mir nachrangig gegenüber dem Grundsatz, dass die einer Entscheidung zugrundeliegenden Tatsachen ÜBERHAUPT in den Prozess eingeführt worden sein müssen.

Die Stellungnahme der Familie Mogendorf vom 6. Februar 2019 (dropbox, pdf-Dokument)

Meine ergänzende Stellungnahme vom 6. Februar 2019

Nur „geringe Schuld“ und „kein öffentliches Interesse“? (Artikel im FAZ Einspruch Magazin vom 13. Februar 2019, in dem die hier vertretene Position noch einmal ausführlicher begründet wird.)

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Links zu früheren Beiträgen und Diskussionen hier im Beck-Blog und weiteren wichtigen Informationen, die im Netz verfügbar sind:

Januar 2019: Loveparade 2010 - "The Art of the Deal" in der Hauptverhandlung? (ca. 6800 Abrufe)

November 2018: Loveparade Duisburg 2010 – die Mühen der Ebene in der Hauptverhandlung (ca. 4500 Abrufe)

September 2018: Loveparade Duisburg 2010 - nach mehr als acht Jahren: Gerlach-Gutachten belegt Ursachenkomplex mit Polizeibeteiligung (ca. 2200 Aufrufe)

Juli 2018: Loveparade 2010 in Duisburg - acht Jahre später (11 Kommentare, ca. 4100 Aufrufe)

März 2018: Loveparade 2010 - Der Gullydeckel/Bauzaun-Komplex in der Hauptverhandlung (11 Kommentare, ca. 4100 Aufrufe)

Dezember 2017: Loveparade 2010 - die Hauptverhandlung beginnt (69 Kommentare, ca. 11300 Aufrufe)

Juli 2017: Loveparade 2010 - sieben Jahre später: Hauptverhandlung in Sichtweite (61 Kommentare, ca. 7400 Aufrufe)

April 2017: Loveparade 2010 – OLG Düsseldorf lässt Anklage zu. Hauptverhandlung nach sieben Jahren (105 Kommentare, ca. 12000 Aufrufe)

Juli 2016: Loveparade 2010 - nach sechs Jahren noch kein Hauptverfahren (76 Kommentare, ca. 12100 Abrufe)

April 2016: Loveparade Duisburg 2010 - Fahrlässigkeiten, 21 Tote, keine Hauptverhandlung? (252 Kommentare, ca. 320000 Abrufe (mglw. Zählfehler)

Juli 2015: Fünf Jahre und kein Ende – die Strafverfolgung im Fall Loveparade 2010 (98 Kommentare, ca. 12500 Abrufe)

Februar 2015: Was wird aus dem Prozess? (72 Kommentare, ca. 10600 Aufrufe)

August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 10600 Abrufe)

Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 17700 Abrufe)

Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 18100 Abrufe)

Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 15600 Abrufe)

Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 33000 Abrufe)

Juli 2011: Ein Jahr danach, staatsanwaltliche Bewertung sickert durch (249 Kommentare, ca. 40400 Abrufe)

Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 41600 Abrufe)

Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 29000 Abrufe)

September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 48000 Abrufe)

Juli 2010: Wie wurde die Katastrophe verursacht - ein Zwischenfazit (465 Kommentare, ca. 57400 Abrufe)

Ergänzend:

Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:

Loveparade2010Doku

speziell: Illustrierter Zeitstrahl

Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010

Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)

Weitere Links:

Artikelsammlung zur Loveparade auf LTO

Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW

Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)

Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)

Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)

Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)

Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.

Rechtswissenschaftlicher Aufsatz von Thomas Grosse-Wilde: Verloren im Dickicht von Kausalität und Erfolgszurechnung. Über "Alleinursachen", "Mitursachen", "Hinwegdenken", "Hinzudenken", "Risikorealisierungen" und "Unumkehrbarkeitszeitpunkte" im Love Parade-Verfahren, in: ZIS 2017, 638 - 661.

Der Anklagesatz

Blog des WDR zur Hauptverhandlung (Berichte über jeden Prozesstag)

 

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56 Kommentare

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Na, da kann ich ja so richtig froh sein, dass von meinen Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung "in der Presse" nichts zu hören und nichts zu sehen ist. 

Hat sich schon wieder erledigt:

https://www.waz.de/staedte/duisburg/loveparade-dressler-scheitert-mit-anzeige-gegen-gericht-id216758181.html

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Am 19. Juni 2019 war der 131. Verhandlungstag.

Die gesamten Ton- und Bild-Aufzeichnungen, die ja einige Blogger nun befürworten für alle LG-Verfahren, die müssten dann ja auch immer durchgesehen und durchgehört werden.

Bei den "professionellen" Tontechnikern, die ich aus der Justizverwaltung selber bereits kenne, und da öfters rein akustisch nichts verstehe von Richtern, Zeugen, Staatsanwälten, Verteidigern, Nebenklagevertretern und Gutachtern, wird das eine sehr interessante Angelegenheit werden. Und als Kameraleute stelle ich mir dann  ähnliche hochqualifizierte Profis aus der Justizverwaltung vor mit deren Bildsequenzen.

Die Bundesländer müssen sich auf einheitliche Standards der Archivsoftware zur Speicherung übrigens auch noch verständigen, ebenso mit dem Datenschutz, und das Ganze muss vor Hackern und Cyberangriffen mit Trojanern und Viren geschützt werden für jede elektronische Übertragung, auch nach Karlsruhe.

Warten wir es also ab, ob das kommt und wann das kommt.

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Aktuelles Thema Verjährung (eventuell gibt es einee neue Entwicklung):

http://www.lg-duisburg.nrw.de/behoerde/loveparade/zt_behinderte/so_pe/20191127-PE-54-Planungen-zum-weiteren-Ablauf-der-Hauptverhandlung.pdf

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