Ohne Gurt im Oldtimer – Die Novellierung des Jugendschutzgesetzes

von Prof. Dr. Marc Liesching, veröffentlicht am 14.02.2020
Rechtsgebiete: MedienrechtJugendschutzrecht6|7898 Aufrufe

Am Safer Internet Day hat Bundesfamilienministerin Franziska Giffey auf Facebook ein „modernes JUGENDMEDIENSCHUTZGESETZ verkündet. Gemeint ist das „Jugendschutzgesetz“ (JuSchG), dessen Änderungen in einem Referentenentwurf am 11.2.2020 zur Anhörung von Verbänden und Institutionen versandt worden ist. Schon vor Veröffentlichung ist der Entwurf von dem Präsidenten der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) scharf kritisiert worden. Dann hat der game-Verband nachgelegt. Die Ministerin unterstellte daraufhin in einer eiligen Kommentarantwort der Games-Branche bloßes Interesse an „Gewinnmaximierung“, was schon angesichts der in ihrer Novelle erfolgenden legislativen Salbung des von der Games-Branche entwickelten IARC-Systems etwas ungeschickt wirken mag. Was bringt der Referentenentwurf zum 2.JuSchGÄnd-G mit sich und wie berechtigt ist die Kritik hieran? – Ein Überblick

Die Blümchentapete bleibt!

Simplifizierende Wortschöpfungen wie „Gute-KiTA-Gesetz“, konsensfähige Kurzbotschaften wie "Mit Hakenkreuzen spielt man nicht", „Jugendschutz geht vor Gewinnmaximierung“ oder auch Vergleiche von IT-Sicherheitsstandards mit der „Pflicht für Sicherheitsgurte in jedem Auto“ sind in ihrer vermeintlichen Klarheit und Einfachheit nicht ganz frei von einer subtilen Ambivalenz. Denn solche simplifizierenden Äußerungen können angesichts komplexer Konstrukte wie der deutschen Bundes- und Landes-Jugendschutzregulierung auch eine fahle Verwirrung darüber hervorrufen, ob die äußernde Person den Adressat(inn)en ihrer Botschaften eine eingeschränkte Auffassungsgabe pawlowscher Art attestiert oder selbst eher einfachen Gemüts ist. Die Bundesfamilienministerin ist freilich in beiderlei Hinsicht über jeden Zweifel erhaben. Die Herausforderung, die verkrusteten Strukturen des in 100 Jahren aus der Prä-Mediengesellschaft heraus zur Hydra gewachsenen Jugendschutzrechts wirklich zeitgemäß zu gestalten, ist komplex und fordert auch Simplifizierung. Denn Medienkonvergenz bedeutet im Grunde nichts anderes als Vereinfachung. Ohne konzertiertes Handeln mit den bislang auf ihrer Zuständigkeit für Rundfunk und Telemedien beharrenden Bundesländern erschien eine einfache medienkonvergente Regulierung allerdings von vornherein nahezu aussichtslos.

Vor diesem Hintergrund musste die nun vorgelegte Novelle nachgerade zwangläufig inhaltlich scheitern. Die neuen Bestimmungen des Referentenentwurfs eines „Zweiten Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes“ widersetzen sich weiter beharrlich der Medienkonvergenz. Für einzelne, noch weiter ausdifferenzierte Mediensparten werden neue Law-and-Order-Regelungen geschaffen, die wie kleinteilige Ornamente wirken, zusammenhanglose Flecken auf der alten Blümchentapete des Jugendschutzgesetzes. Was da Neues an der Wohnstubenwand klebt, dürfte sich indes auf das Haus Europa (EU) kaum auswirken. Denn immerhin beachtet die JuSchG-Novelle das europarechtliche Herkunftslandprinzip (Art. 3 ECRL) – im Gegensatz zu § 1 Abs. 8 MStV und § 2 Abs. 1 S. 2 und 3 JMStV. Die Folge ist, dass sich die großen Medienanbieter in anderen EU-Mitgliedstaaten erstmal grundsätzlich nicht an das neue Jugendschutzrecht zu halten brauchen. Für in Deutschland ansässige – mit den Worten von Frau Ministerin Giffey an „Gewinnmaximierung“ interessierte – Medienunternehmen dürfte sich hingegen im aktuellen nationalstaatlichen Novellen-Gesamtpaket aus NetzDG, TMG, MStV, JuSchG und JMStV mit zunehmender Dringlichkeit die Standortfrage stellen.

Einheitlicher Medienbegriff – semantisch ist er schon mal da!

Der Begriff „Medienkonvergenz“ beschreibt im Grunde nur die längst vollzogene Phänomenologie der Beliebigkeit technischer Verbreitungswege von Medieninhalten. Alles was offline ist, kann auch online sein – und umgekehrt. Mediensparten wie „Trägermedien“, „Telemedien“ und „Rundfunk“ werden gerade im Bereich des Jugendschutzes überflüssig, wenn die Wirkungen für Kinder und Jugendliche auf allen Kanälen und medialen Aggregatzuständen dieselben sind. Die Kinderserie „Paw Patrol“ ist im Rundfunk ebenso „ab 0“ oder „ab 6“ wie in der Mediathek (Telemedium) oder auf DVD / Blue-ray Disc (Trägermedium).

Nach der Auffassung von Frau Ministerin Giffey wird nun mit dem Referentenentwurf „weitestgehende Kohärenz mit den Länderregelungen durch einheitlichen Medienbegriff“ hergestellt. Die entsprechende Regelung im neuen § 1 Abs. 1a JuSchGÄndG-E lautet:

Medien im Sinne dieses Gesetzes sind Trägermedien und Telemedien.

Nun kann man durchaus vertreten, dass durch die semantische Verschmelzung der Kategorien „Trägermedien“ und „Telemedien“ zu der Oberkategorie „Medien“ eine gewisse sprachliche Konsolidierung stattgefunden hat. Rundfunk ist hiernach zwar kein Medium, aber man kann schließlich auch zu Äpfeln und Birnen „Obst“ sagen, ohne damit Bananen zu meinen.

Problematischer erscheint, dass sich dann im weiteren Gesetz fast keine materiell-rechtlichen Konsolidierungen von Träger- und Telemedien zu einheitlichen Bestimmungen und Rechtsfolgen finden. Die neuen Kernregelungen des § 14a JuSchGÄndG-E (Film- und Spielplattformen) und § 24a JuSchGÄndG-E (Vorsorgemaßnahmen für Host-Diensteanbieter) betreffen ohnehin nur bestimmte Telemedien.  Ansonsten bleiben Rechtsfolgen überwiegend nach Trägermedien (bzw. Bildträgern) einerseits und Telemedien andererseits getrennt – wie bisher. 

Selbst bei den Indizierungsfolgen in § 15 JuSchG wird im Grunde nur eine semantische Kapriole gedreht, indem zwar bei den Verbreitungsbeschränkungen in der Überschrift statt „Trägermedien“  nunmehr „Medien“ geschrieben wird. Dann differenziert die Norm aber doch wieder nach Mediensparten, soweit es etwa in § 15 Abs. 1 JuSchGÄndG-E nun heißt, dass „Medien“ nicht „als Trägermedien“ auf bestimmte Weise zugänglich gemacht werden sollen. Im neuen § 15 Abs. 1a JuSchGÄndG steht jetzt, dass indizierte „Medien“ nicht „als Telemedien“ vorgeführt werden dürfen.

Wenn dies – mit den Worten der Ministerin Giffey – die „weitestgehende Kohärenz“ durch einen einheitlichen Medienbegriff darstellt, hätte man es im Grunde auch sein lassen können. Dann wäre das JuSchG zumindest um den nun zusätzlich eingeführten, fast keine praktische Bedeutung zeitigenden Terminus „Medien“ entlastet geblieben.

Der letzte klare Anker nachvollziehbarer Altersstufen wird eingezogen

Durch einen im Referentenentwurf vorgeschlagenen § 10b JuSchGÄndG wird eine Legaldefinition des für die Alterseinstufung maßgeblichen Begriffs der „Entwicklungsbeeinträchtigung“ vorgeschlagen. Hierdurch wird ein bislang medienkonvergent für alle Inhalte gleich geltender, zentraler Jugendschutz-Parameter plötzlich mediendivergent. Es ist schon unklar, ob der neue Begriff der Entwicklungsbeeinträchtigung  auch den insgesamt im JuSchG ausgenommenen Rundfunk mit erfassen soll und kann. Überhaupt scheint die Bindungskraft für rechtsanwendende Institutionen unter der Ägide des JMStV (Landesmedienanstalten und §19-Selbstkontrolleinrichtungen wie FSF und FSM) fraglich, zumal insoweit eigene, gerade erst aktualisierte  Jugendschutzrichtlinien zur Auslegung des Begriffs der Entwicklungsbeeinträchtigung vorliegen.

Dessen ungeachtet erfolgt nun in § 10b JuSchGÄndG-E eine Regelung wie folgt:

Zu den entwicklungsbeeinträchtigenden Medien nach § 10a Nummer 1 zählen insbesondere übermäßig ängstigende, Gewalt befürwortende oder das sozialethische Wertebild beeinträchtigende Medien. Bei der Beurteilung der Entwicklungsbeeinträchtigung können auch außerhalb der medieninhaltlichen Wirkung liegende Umstände der jeweiligen Nutzung des Mediums berücksichtigt werden, wenn diese auf Dauer angelegter Bestandteil des Mediums sind und eine abweichende Gesamtbeurteilung rechtfertigen. Insbesondere sind nach konkreter Gefahrenprognose als erheblich einzustufende Risiken für die persönliche Integrität von Kindern und Jugendlichen, die im Rahmen der Nutzung des Mediums auftreten können, angemessen zu berücksichtigen.

Während Satz 1 in noch begrüßenswerter Klarstellung im Wesentlichen die bisherige Spruchpraxis aller Institutionen zur Alterseinstufung nach dem Begriff der „Entwicklungsbeeinträchtigung“ zusammenfasst, stellen die Sätze 2 und 3 den bisherigen institutionenübergreifenden Konsens in der Spruchpraxis sogleich in Frage.  In der Begründung des Entwurfs wird konkretisiert, was mit „außerhalb der medieninhaltlichen Wirkung liegenden Umständen“ gemeint ist. Berücksichtigt werden soll künftig, „ob die Medien eine exzessive Nutzungsweise fördern, uneingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten mit anderen Nutzerinnen und Nutzern eröffnen, uneingeschränkte Kaufmöglichkeiten digitaler Güter eröffnen oder bei der Nutzung eine unangemessene Übermittlung personenbezogener Daten an Dritte erfolgt“. Exemplarisch genannt werden „Kommunikationsrisiken in Online-Spielen, simuliertes Glücksspiel, glücksspielähnliche Elemente wie »Lootboxen« oder das Verleiten zur Preisgabe persönlicher Daten“ (S. 45).

Die Intention des Gesetzgebers, Kommunikations- und Nutzungsrisiken im Jugendschutz zu berücksichtigen, ist grundsätzlich für manche der genannten Bereiche ein guter und wichtiger Schritt, der gerade mit Blick auf eine zeitgemäße Regulierung nicht per se verfehlt erscheint. Andere Aspekte wie die Förderung einer „exzessiven Nutzungsweise“ sind unkonkret und können in der Bewertungspraxis eigentlich nur durch freie Spekulation ohne wissenschaftliche Fundierung gehandhabt werden.  

Grundsätzlich kann kritisch hinterfragt werden, ob die Berücksichtigung dynamischer Nutzungsrisiken gerade durch Modifikation der Alterseinstufungen und der bislang auf unveränderbaren Inhaltsrisiken beschränkten Wertungskriterien sinnvoll  umgesetzt werden kann. Die Altersstufen 0/6/12/16/18 sind in einer über 70jährigen Tradition nicht nur in der institutionellen Spruchpraxis eingeübt, sondern auch nahezu das einzige Element des gesetzlichen Jugendschutzes, das in der Bevölkerung weithin bekannt ist und Orientierung sowie Nachvollziehbarkeit bietet.

Durch das systematische Aufbrechen dieses bislang konvergenten, da rein an der inhaltlichen Medienwirkung orientierten Altersstufen-Kompasses zugunsten zahlreicher dynamischer Aliud-Wertungskomponenten dürfen sich künftig Nutzer und Nutzerinnen auf sehr divergente Alterskennzeichnungen desselben Inhaltes einstellen. Wenn der erste Teil von Harry Potter mit FSK 6 zukünftig in einer Mediathek läuft, wo der zweite Teil gekauft werden kann (Kaufmöglichkeit) oder eine Kommentarfunktion bereitsteht oder ein Cliffhanger am Ende des Films einen Anreiz setzt, den nächsten zu schauen (exzessive Nutzung), könnte die Alterskennzeichnung je nach Verbreitungsweg und Plattform auf eine andere Altersstufe springen. Ganz nebenbei wird hierdurch die gesetzliche Vermutung des § 5 Abs. 2 S. 1 JMStV desavouiert.

Insgesamt führt § 10b S. 2 und 3 JuSchGÄndG zu einer weiteren, tiefgreifenden Medienspartendifferenzierung und dies ausgerechnet bei dem seither nahezu einzig medienkonvergenten Regulierungselement des Jugendschutzes. Denn der Begriff der Entwicklungsbeeinträchtigung galt bislang für alle Medien gleich. Nun wird der letzte Rest vorhandener Medienkonvergenz im Jugendschutzgesetz geopfert. Statische Alterskennzeichen sind zur Abbildung dynamischer und sich ständig verändernder Nutzungsszenarien ungeeignet. Systemische best practice Modelle vieler Anbieter (Kaufbeschränkungen, Einstellung der maximalen Nutzungszeit, Beschränkung von Kommunikationsmöglichkeiten und Datenweitergabe) lassen überdies die Erforderlichkeit der leichtfertigen Aufgabe eines verlässlichen und nachvollziehbaren Altersstufensystems umso zweifelhafter erscheinen.

Doch wenn man überhaupt auf strenge und bußgeldbewehrte Restriktionen für die schon weniger werdenden deutschen Anbieter setzen will, so wäre doch in vielerlei Hinsicht vorzugswürdig gewesen, Interaktionsrisiken nicht bei der im Jugendschutz bewährten, medienkonvergenten Alterseinstufung zu berücksichtigen, sondern im Rahmen spezifischer tatbestandlicher Verbreitungsbeschränkungen, wie sie etwa schon in § 6 JMStV zum Teil etabliert sind. Hierfür hätte der Bund freilich kaum eine Gesetzgebungskompetenz geltend machen und politisch durchsetzen können. „Form follows legislative competence“ sollte indes angesichts des Ziels einer medienkonvergenten Regulierung keine Handlungsmaxime sein – selbst wenn sich die Bundesländer im Rahmen der bisherigen JMStV-Novellierungsversuche auf eher symbolhafte Schaufensterregulierung beschränkt haben und sich der Bund aufgefordert sehen durfte, nun auch im Telemedienbereich eine zielführende Regulierung anzugehen.

Kindersendungen weiter durch die Dreifachkontrolle

Eines der zentralsten Anliegen in Folge der Medienkonvergenz ist bis heute eine Vereinfachung der Durchwirkung von Alterseinstufungen auf andere Medien. „Was online gilt, muss auch offline gelten“ hört sich nur nach einem weiteren simplifizierenden Zitat von Frau Ministerin Giffey an. Bedauerlicherweise ist es das nicht. Eine medienkonvergente Durchwirkung von Jugendschutzentscheidungen scheint angesichts der nun vorgeschlagenen Regelung in § 14 Abs. 6a JuSchGÄndG bedauerlicherweise kein prioritäres Anliegen gewesen zu sein. Denn auch weiterhin gilt nun für Sendungen des Privatfernsehens das verkorkste und in der Praxis kaum mehr genutzte Durchwirkungsverfahren im „3-Stop-Shop“ über FSF-KJM-OLjB (vgl. § 5 Abs. 2 S. 2 bis 5 JMStV). Überraschenderweise werden mediendivergent öffentlich-rechtliche Rundfunkveranstalter privilegiert, was wie eine Gratifikation der seit vielen Jahren großzügigen „ab 12“ Bewertungen exzessiver Gewaltdarstellungen in reichweitenstarken Tatort-Kriminalfilmen im Hauptabendprogramm anmutet.

Die vorgeschlagene Regelung des § 14 Abs. 6a JuSchGÄndG-E hat den folgenden Wortlaut:

(6a) Das gemeinsame Verfahren nach Absatz 6 kann vorsehen, dass von der zentralen Aufsichtsstelle der Länder für den Jugendmedienschutz bestätigte Altersbewertungen nach dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag oder Altersbewertungen der Veranstalter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Freigaben im Sinne des Absatzes 6 Satz 2 wirken, sofern dies mit der Spruchpraxis der obersten Landesbehörden nicht unvereinbar ist. Die Absätze 3 und 4 bleiben unberührt.

Die Vorschrift führt meines Erachtens zu einer nach Art. 3 GG kaum zu legitimierenden Ungleichbehandlung von privaten und öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstaltern. Privatsender haben hiernach keine direkte Möglichkeit der Durchwirkung. Sie müssen Kinderserien wie „Paw Patrol“ selbst bei einer Erstkontrolle und Bewertung „ab 6“ durch die FSF (§§ 19, 20 JMStV) und bei unbeanstandeter Ausstrahlung  trotzdem nochmals zusätzlich durch die komplexe Kontrolle von KJM/OLjB  (§ 5 Abs. 2 S. 2 bis 5 JMStV) oder der FSK (§ 14 JuSchG) führen, wenn später ein Bildträger-Vertrieb erfolgen soll. Ganz anders die Sender von ARD und ZDF – ihnen genügen bloße Eigenbewertungen, die niemals extern überprüft worden sind.

Zwar sieht der JuSchGÄndG-E an anderer Stelle (§ 14 Abs. 6) begrüßenswerter Weise nun explizit die Möglichkeit vor,  dass auch die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) mit den OLjB eine Ländervereinbarung schließen kann, die derjenigen der FSK entspricht. Sollte eine solche Vereinbarung aber nicht zeitnah zustande kommen, könnte man es privaten Rundfunkveranstaltern nicht verdenken, vorsorglich die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen die nun geschaffene Ungleichbehandlung in § 14 Abs. 6a JuSchGÄndG-E zu prüfen.

Kennzeichnungspflicht für (deutsche) „Film- und Spielplattformen“

Ein gänzlich neuer, eigentlich bislang eher den Ländern vorbehaltener Regulierungsbereich wird durch § 14a JuSchGÄndG-E eröffnet: Eine Alterskennzeichnungspflicht für Online-Film- und Spielplattformen. Hierdurch werden faktisch die Anbieterpflichten nach §§ 5, 12 JMStV überlagert bzw. treten hinzu (vgl. Entwurfsbegründung: „ergänzt“; S. 51). Die Vorschrift des § 14a JuSchGÄndG-E hat den folgenden Wortlaut:

(1) Film- und Spielplattformen, die als Diensteanbieter Filme oder Spielprogramme in einem Gesamtangebot zusammenfassen und mit Gewinnerzielungsabsicht als eigene Inhalte nach § 7 des Telemediengesetzes zum individuellen Abruf zu einem von den Nutzerinnen und Nutzern gewählten Zeitpunkt bereithalten, müssen gemäß den Altersstufen des § 14 Absatz 2 die in der Plattform bereitgehaltenen Filme und Spielprogramme im Falle einer Entwicklungsbeeinträchtigung mit einer entsprechenden deutlichen Kennzeichnung versehen, die

1. im Rahmen des Verfahrens des § 14 Absatz 6 oder durch eine nach § 19 des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages anerkannte Einrichtung der freiwilligen Selbstkontrolle oder

2. durch ein von den obersten Landesbehörden anerkanntes automatisiertes Bewertungssystem einer im Rahmen einer Vereinbarung nach § 14 Absatz 6 tätigen Einrichtung der freiwilligen Selbstkontrolle vorgenommen wurde, wenn keine Kennzeichnung im Sinne des Nummer 1 gegeben ist.

§ 10b und § 14 Absatz 2a gelten entsprechend.

(2) Der Diensteanbieter ist von der Pflicht nach Absatz 1 Satz 1 befreit, wenn die Film- oder Spielplattform im Inland weniger als eine Million Nutzerinnen und Nutzer hat.

Ungeachtet kleinerer Fragestellungen wie etwa der Ermittelbarkeit der Bagatellgrenze nach Absatz 2 ergibt sich zuvörderst, dass durch die Kennzeichnungspflicht grundsätzlich nur Film- und Spielplattformen mit einer Niederlassung in Deutschland erfasst werden. Denn da die Normadressaten audiovisuelle Mediendienste auf Abruf bereithalten, gilt das Sendestaatsprinzip nach Art. 3 Abs. 1 AVMD-RL. Die in § 14a JuSchGÄndG geregelte Kennzeichnungspflicht fällt auch in den koordinierten Bereich der Richtlinie und würde als Empfangsstaatregelung gegenüber Anbietern mit Sitz in anderen EU-Mitgliedstaaten (Art. 2 AVMD-RL) schon aufgrund der drohenden Bußgeldahndung (§ 28 Abs. 3 Nr. 2 JuSchGÄndG-E) die Weiterverbreitung entgegen dem Sendestaatsprinzip behindern.

Ausnahmen von dem Sendestaatsprinzip erscheinen nach Art. 3 Abs. 2 und 3 AVMD-RL kaum begründbar und würden ohnehin nur „vorübergehende“ Abweichungen legitimieren, hingegen keine dauerhaften Kennzeichnungspflichten. Auch die strengen Voraussetzungen des Missbrauchsfalls nach Art. 4 Abs. 2 bis 4 AVMD-RL sind allein aufgrund einer fehlenden Alterskennzeichnung auf Film- und Spielplattformen von Anbietern mit Sitz in einem anderen EU- Mitgliedstaat regelmäßig nicht gegeben.

Damit stellt sich die Frage, welche reichweitenrelevanten Anbieter von Film- und Spielplattformen  die neue Regelung überhaupt betreffen wird. Amazon Prime und Netflix eher nicht. Man könnte also überspitzt von einem „Lex Telekom“ sprechen, gäbe es da nicht noch eine weitere, eher fatale Auswirkung der Regelung.

Funktionierender Jugendmedienschutz in Mediatheken wird abgeschafft

Die Kennzeichnungspflicht des § 14a JuSchGÄndG-E wird auch auf alle Mediatheken deutscher Rundfunkveranstalter Anwendung finden, jedenfalls soweit dies Spielfilme, Serien und Dokumentarfilme betrifft (vgl. S. 50 der Entwurfsbegründung). Dies allein wäre wohl kein Problem, da die Mediatheken seit Jahren nahezu unbeanstandet von der Medienaufsicht einen flächendeckend funktionierenden Jugendschutz betreiben, der insbesondere durch erfahrene bestellte Jugendschutzbeauftragte (§ 7 JMStV) als selbstregulatives Element betrieben wird. Die Jugendschutzbeauftragen aller Sender stehen in einem fachlichen Austausch und stellen eine hohe Expertise und Unabhängigkeit bei der Jugendschutzbewertung ihrer Rundfunk- und Mediathek-Angebote sicher.

Dieser seit Jahren eingespielte und funktionierende Jugendschutz wird nun durch § 14a JuSchGÄndG-E abgeschafft. Denn die fachlichen Bewertungen der Jugendschutzbeauftragten nach § 7 JMStV werden durch die Regelung vollständig entwertet. Sie genügen nicht mehr für eine Altersstufenbewertung und Kennzeichnung in Mediatheken. Stattdessen müssen Jugendschutzbeauftragte nun Bewertungsautomaten nach § 14a Abs. 1 Nr. 2 JuSchGÄndG-E bedienen, und die algorithmisch ausgespuckten Ergebnisse auch dann für die Kennzeichnung nehmen, wenn sie selbst aufgrund ihrer persönlichen Fachexpertise eine andere Einstufung vorgenommen hätten.

Hier sollte das Bundesfamilienministerium die Kennzeichnung bei Film- und Spielplattformen dringend auch für die Fachbewertung der nach § 7 JMStV bestellten Jugendschutzbeauftragten öffnen. Denn es ist das eine, praktisch kaum bedeutsame Kennzeichnungspflichten zum Nachteil des deutschen Standorts zu etablieren, die für EU-Anbieter nicht gelten. Das andere aber wäre eine Sabotage der wenigen intakten und gut funktionierenden Jugendschutz-Selbstregulierungsbereiche in Deutschland.

„Vorsorgemaßnahmen“ durch in Deutschland ansässige Plattformbetreiber

Als ein Kernstück des JuSchG-Novellierungsvorschlags dürfte Frau Ministerin Giffey die §§ 24a bis 24d JuSchGÄndG-E ansehen, welche im Wesentlichen die Verpflichtung bestimmter Host-Provider zu „Vorsorgemaßnahmen“ unter der Aufsicht einer neu etablierten „Bundeszentrale“ vorsieht. Im vorliegenden Beitrag würde eine detaillierte Befassung mit allen Aspekten des Regelungskomplexes den Rahmen sprengen. Hier hat etwa der Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) bereits Kritik geübt, soweit er die vermeintliche Überflüssigkeit einer „Bundeszentrale“ angesichts des „bewährten Gremiums“  der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) betont.

Man kann sicher darüber streiten, ob „bewährte KJM“ ein Oxymoron oder ein Pleonasmus oder keins von beidem ist. Abseits institutioneller Investiturstreitigkeiten erfolgen hier nur grundsätzlichere und europarechtliche Anmerkungen zu der zentralen Norm des § 24a JuSchGÄndG-E mit folgendem Wortlaut.

§ 24a Vorsorgemaßnahmen

(1) Diensteanbieter, die fremde Informationen für Nutzerinnen und Nutzer mit Gewinnerzielungsabsicht speichern oder bereitstellen, haben unbeschadet des § 10 des Telemediengesetzes durch angemessene und wirksame strukturelle Vorsorgemaß-nahmen dafür Sorge zu tragen, dass die Schutzziele des § 10a Nummer 1 bis 3 gewahrt werden. Die Pflicht nach Satz 1 besteht nicht für Diensteanbieter, deren Ange-bote sich nicht an Kinder und Jugendliche richten und von diesen üblicherweise nicht genutzt werden sowie für journalistisch-redaktionell gestaltete Angeboten, die vom Diensteanbieter selbst verantwortet werden.

(2) Als Vorsorgemaßnahmen kommen insbesondere in Betracht:

1. die Bereitstellung eines den Bestimmungen der §§ 10a Absatz 1 und Absatz 2 und 10b Absatz 1 bis Absatz 3 Satz 2 des Telemediengesetzes entsprechenden Melde- und Abhilfeverfahrens, mit dem Nutzerinnen und Nutzer folgende Beschwerden melden können:

a) unzulässige Angebote nach § 4 des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages, o-der

b) entwicklungsbeeinträchtigende Angebote nach § 5 Absatz 1 und 2 des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages, die der Diensteanbieter der Allgemeinheit bereitstellt, ohne seiner Verpflichtung aus § 5 Absatz 1 des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages durch Maßnahmen nach § 5 Absatz 3 bis 5 des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages nachzukommen;

2. die Bereitstellung eines Melde- und Abhilfeverfahrens mit einer für Kinder und Jugendliche geeigneten Benutzerführung, im Rahmen dessen insbesondere minder-jährige Nutzer und Nutzerinnen Beeinträchtigungen ihrer persönlichen Integrität durch nutzergenerierte Informationen dem Diensteanbieter melden können;

3. die Bereitstellung eines Einstufungssystems für nutzergenerierte audiovisuelle In-halte, mit dem Nutzerinnen und Nutzer im Zusammenhang mit der Generierung standardmäßig insbesondere dazu aufgefordert werden, die Eignung eines Inhalts entsprechend der Altersstufe „ab 18 Jahren“ als nur für Erwachsene zu bewerten;

4. die Bereitstellung technischer Mittel zur Altersverifikation für nutzergenerierte audiovisuelle Inhalte, die die Nutzerin oder der Nutzer im Zusammenhang mit der Generierung entsprechend der Altersstufe „ab 18 Jahren“ als nur für Erwachsene geeignet bewertet hat;

5. der leicht auffindbare Hinweis auf anbieterunabhängige Beratungsangebote, Hilfe- und Meldemöglichkeiten;

6. die Bereitstellung technischer Mittel zur Steuerung und Begleitung der Nutzung der Angebote durch personensorgeberechtigte Personen;

7. die Einrichtung von Voreinstellungen, die Nutzungsrisiken für Kinder und Jugend-liche unter Berücksichtigung ihres Alters begrenzen, indem insbesondere ohne ausdrückliche anderslautende Einwilligung

a) Nutzerprofile weder durch Suchdienste aufgefunden werden können, noch für nicht angemeldete Personen einsehbar sind,

b) Standort- und Kontaktdaten und die Kommunikation mit anderen Nutzerinnen und Nutzern nicht veröffentlicht werden,

c) die Kommunikation mit anderen Nutzerinnen und Nutzern auf einen von den Nutzerinnen und Nutzern vorab selbst gewählten Kreis eingeschränkt ist,

d) die Nutzung anonym oder unter Pseudonym erfolgt und

e) Nutzungsdaten nicht an Dritte weitergegeben werden;

8. die Verwendung von Bestimmungen in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die den Anforderungen des § 10c Absatz 1 des Telemediengesetzes entsprechen und die für die Nutzung wesentlichen Bestimmungen der Allgemeinen Geschäfts-bedingungen in kindgerechter Weise darstellen.

(3) Der Diensteanbieter ist von der Pflicht nach Absatz 1 und 2 befreit, wenn das Angebot im Inland weniger als eine Million Nutzerinnen und Nutzer hat.

(4) Die Bestimmungen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes vom 1. September 2017 (BGBl. I S. 3352) und des Telemediengesetzes [vom (BGBl.)] bleiben unberührt.

Im Gegensatz zu den landesrechtlichen Bestimmungen zum MStV und zum JMStV wird in der Begründung des Referentenentwurfs zum JuSchGÄndG ausdrücklich auf die Geltung der Vorgaben des Herkunftslandprinzips nach Art. 3 Abs. 4 bis 6 ECRL und deren Umsetzung in § 3 Abs. 5 TMG hingewiesen. Überdies wird in § 24a Abs. 4 JuSchGÄndG klargestellt, dass die Bestimmungen des Telemediengesetzes einschließlich § 3 Abs. 5 TMG „unberührt“ bleiben. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf den Wortlaut der Bestimmungen der §§ 24a bis 24d JuSchGÄndG kann daher davon ausgegangen werden, dass die Entwurfsfassung unionsrechtliche Vorgaben des Art. 3 ECRL beachtet.

Faktisch dürfte dies dazu führen, dass vor allem die marktrelevanten Sozialen Netzwerke und Video-Sharing-Plattformen eher nicht den Verpflichtungen des § 24a JuSchGÄndG unterfallen werden. Denn aus den unionsrechtlichen Anforderungen des Herkunftslandprinzips  für die Anwendung des JuSchGÄndG auf Soziale Netzwerke mit Niederlassung in einem anderen EU-Mitgliedstaat gelten die folgenden zu beachtenden Voraussetzungen und Einschränkungen:

  • Aus §§ 24a bis 24d JuSchGÄndG dürfen sich für Anbieter Sozialer Netzwerke oder sonstiger Host-Provider mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat grundsätzlich keine Einschränkungen des freien Verkehrs von Diensten i.S.d. Art. 3 Abs. 2 ECRL bzw. § 3 Abs. 2 TMG ergeben.
  • Hiervon abweichend kann die Bundeszentrale nach § 24b Abs. 3 und 4 JuSchGÄndG nur Aufforderungen und Anordnungen gegen einen bestimmten Diensteanbieter richten, wenn die materiellen und prozeduralen Voraussetzungen nach Art. 3 Abs. 4 bis 6 ECRL bzw. § 3 Abs. 5 TMG erfüllt sind.
  • Dies umfasst zunächst die Prüfung und den Nachweis, dass das betreffende Soziale Netzwerk oder der sonstige Host-Provider konkret das Ziel des Schutzes der öffentlichen Ordnung einschließlich des Jugendschutzes „beeinträchtigt oder eine ernsthafte und schwerwiegende Gefahr einer Beeinträchtigung dieser Ziele darstellt“ [Art. 3 Abs. 4 a) i) und ii) ECRL]. Eine solche Beeinträchtigung kann freilich nicht schon daraus abgeleitet werden, dass die in der deutschen Empfangsstaatregelung des § 24a Abs. 2 JuSchGÄndG genannten Vorsorgemaßnahmen nicht oder nur zum Teil getroffen worden sind. Denn dies begründet gerade nicht, dass bei einem konkreten Dienst tatsächlich das Schutzziel des Jugendschutzes in relevanter Weise beeinträchtigt wird. Es bedarf vielmehr phänomenologischer Feststellungen, welche über den Einzelfallverstoß hinausgehen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass auch die abstrakten Vorsorgemaßnahmen in der Regel keine Unterbindung jugendschutzrelevanter Inhalte bewirken können, da Soziale Netzwerke aufgrund § 10 TMG stets erst ab Kenntnis (z.B. auf Beschwerde hin) tätig werden. So verhindern beispielsweise weder die Bereitstellung von Meldeverfahren noch Hinweise auf Beratungsangebote, Hilfe- und Meldemöglichkeiten, dass über Sozialen Netzwerke tatsächlich jugendschutzrelevante Inhalte einzelner Uploader verfügbar sind. Letzteres ist vielmehr stets bei Host-Providern nach § 10 TMG der Fall und begründet per se noch keine „Beeinträchtigung des Jugendschutzes“, da sie zwangsläufig aus der beschränkten Verantwortlichkeit erst ab konkreter Kenntnis (Art. 14 ECRL) resultiert. Erforderlich ist vielmehr der Nachweis, dass das betreffende Soziale Netzwerk in einer Vielzahl erheblicher und massiv gegen den Jugendschutz verstoßender Einzelfälle trotz Kenntniserlangung über einen geraumen Zeitraum keine Prüfung vornimmt und ggf. erforderliche Maßnahmen trifft.
  • Sowohl bei der Prüfung von Beeinträchtigungen des Jugendschutzes nach Art. 3 Abs. 4 a) i) und ii) ECRL als auch bei der Prüfung, ob Maßnahmen der Bundeszentrale in einem „angemessenen Verhältnis“ zum Ziel des Jugendschutzes stehen [Art. 3 Abs. 4 a) i) und ii) ECRL], ist die Schwere der Jugendschutzverstöße in den festgestellten Einzelfällen zu berücksichtigen. Bloße Entwicklungsbeeinträchtigungen i.S.d. § 5 JMStV sind daher weniger geeignet, eine Ausnahme vom Herkunftslandprinzip zu begründen als unzulässige Angebote nach § 4 JMStV.
  • Bei der Prüfung von Beeinträchtigungen des Jugendschutzes nach Art. 3 Abs. 4 a) i) und ii) ECRL als auch bei der Prüfung, ob Maßnahmen der Bundeszentrale in einem „angemessenen Verhältnis“ zum Ziel des Jugendschutzes stehen [Art. 3 Abs. 4 a) i) und ii) ECRL] ist zu berücksichtigen, welche Vorsorgemaßnahmen der Anbieter bereits trifft. Insbesondere soweit das Soziale Netzwerk bereits einzelne der in § 24a Abs. 2 JuSchGÄndG-E genannten Vorsorgemaßnahmen vorhält (z.B. ein Meldeverfahren oder Hinweise auf anbieterunabhängige Beratungsangebote, Hilfe- und Meldemöglichkeiten, erscheint schon zweifelhaft, ob gleichwohl nach Art. 3 Abs. 4 ECRL weitere Maßnahmen unionsrechtkonform verlangt und durchgesetzt werden können. Dies gilt auch, wenn der Anbieter mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat andere Maßnahmen wie z.B. ein pauschales Tagging „16“ oder „18“ all seiner Inhalte für das Jugendschutzprogramm JusProG vornimmt oder ein Meldeverfahren nach dem NetzDG, das auch die nach § 4 JMStV unzulässigen Angebote weitgehend erfasst, vorhält.
  • Über die genannten materiellen Ausnahmevoraussetzungen hinaus muss vor Aufforderungen und Anordnungen der Bundeszentrale gemäß § 24b Abs. 3 und 4 JuSchGÄndG der betroffene Sitzland-Mitgliedstaat von der Bundesrepublik Deutschland aufgefordert worden sein, Maßnahmen zu ergreifen. Hieraufhin muss geprüft und festgestellt worden sein, dass der Aufforderung nicht Folge geleistet worden ist oder die vom Sitzland getroffenen Maßnahmen unzulänglich waren [Art. 3 Abs. 4 b) 1. Spiegelstrich ECRL].
  • Vor Aufforderungen und Anordnungen der Bundeszentrale gemäß § 24b Abs. 3 und 4 JuSchGÄndG muss überdies die EU-Kommission und der betroffene Sitzland-Mitgliedstaat über die Absicht der Bundeszentrale, Maßnahmen gegen einen bestimmten Anbieter eines Sozialen Netzwerks zu ergreifen, unterrichtet werden [Art. 3 Abs. 4 b) 1. Spiegelstrich ECRL].

Die Pflichten zu Vorsorgemaßnahmen nach §§ 24a ff. JuSchGÄndG-E werden daher faktisch eher nur Anbieter mit Niederlassung in Deutschland mit Restriktionen, einer weiteren Aufsichtsinstitution und komplizierten Compliance-Prozeduren überziehen. Diese treten gegebenenfalls neben § 3 NetzDG mit dem Bundesamt für Justiz, den § 5a JMStV mit den Landesmedienanstalten und der KJM sowie §§ 10a und 10b TMG-E und der zuständigen Bußgeldbehörde. Keine der genannten Regelungen sind auf die jeweils anderen exakt abgestimmt. Es ergeben sich zum Teil erhebliche Überschneidungen in den Anwendungsbereichen – Ein deutscher Regulierungsexzess, den manches Unternehmen als Aufforderung zum Exodus missinterpretieren könnte.

Schluss

Nach meiner persönlichen Prognose werden §§ 24a bis 24d JuSchGÄndG-E ebenso wie nahezu alle anderen Regelungsvorschläge des Referentenentwurfs kaum messbare Auswirkungen im Bereich des Jugendschutzes in Deutschland haben – abgesehen von (1.) einer nicht unwahrscheinlichen Desorientierung von Eltern und Kindern durch entwertete und heterogene Alterskennzeichen, (2.) einer nachhaltigen Verwirrung von Jugendschutzinstitutionen aufgrund überlappender und im Grunde nicht abgrenzbarer Zuständigkeiten und materieller Regelungen, (3.) einer fehlenden Stärkung der Selbstregulierung und einer Schwächung funktionierender selbstregulierender Elemente (Jugendschutzbeauftragte nach § 7 JMStV) sowie (4.) einer impliziten Nahelegung gegenüber einem maßgeblichen Teil der New Economy, lieber einen anderen Standort als Deutschland zu wählen.

Freilich hat Frau Ministerin Giffey auch recht: „Jugendschutz geht vor Gewinnmaximierung“. Doch dem ließen sich weitere aphoristische Kurzbotschaften mit Konsenspotential hinzufügen wie z.B. „Kluge Jugendschutzregulierung geht vor effektlosen Aktionismus“ oder "Selbstregulierung geht vor staatliche Regulierung" oder „Irland geht vor Deutschland“ oder „Bund und Land aus einer Hand“ oder „Online ist offline ist online“ etc. Mit Blick auf die nach wie vor weder im JMStV noch im JuSchG vollzogene Medienkonvergenz tut es auch mal der Rückgriff auf Nietzsche: „Eine Schlange, die sich nicht häutet, stirbt“.

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6 Kommentare

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Ich habe diesen Text (mal wieder) mit großem Genuß gelesen und stimme im Prinzip allem zu. Nur eine Nuance: Die vordergründige "Salbung" für IARC ist ein Danaergeschenk, denn § 14a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 JuSchG-E entzieht dem System genauso das Vertrauen wie Nr. 1 das mit den Jugendschutzbeauftragten tut. Obwohl das System seit Jahren gut funktioniert, wäre es nach dem JuSchG-E nur noch mit einer zusätzlichen behördlichen Anerkennung ausreichend. Welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit ein Anspruch auf diese Anerkennung besteht, sagt der Entwurf nicht. Das ist fatal, insbesondere im Zusammenspiel mit Aufsichtsbehörden, die es offenbar für verhältnismäßig und zielführend halten, einem Jugendschutzprogramm ohne jede Übergangsfrist zu Anerkennung zu entziehen und damit um Jugendschutz bemühte Anbieter buchstäblich über Nacht im Regen stehen lassen.

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Antwort von Frau Giffey auf einen Kommentar von Martin Lorber, immer noch unverändert unter dem Link abrufbar.

"Der Entwurf erfüllt sämtliche Ziele des Koalitionsvertrages – Orientierung, weitestgehende Kohärenz mit den Länderregelungen durch einheitlichen Medienbegriff und vertriebswegübergreifende Alterskennzeichen, Berücksichtigung von Interaktionsrisiken in Alterskennzeichen und durch Anbietervorsorge, Deskriptoren bei Alterskennzeichen, Anerkennung moderner Alterskennzeichnungssysteme, Einbezug endlich auch der für Kinder und Jugendliche maßgeblichen ausländischen Anbieter – und das alles, ohne in Länderkompetenzen einzugreifen"

"Zu den entwicklungsbeeinträchtigenden Medien nach § 10a Nummer 1 zählen insbesondere übermäßig .... das sozialethische Wertebild beeinträchtigende Medien." Zitat Ende. Köstlich! Ich nehme an, dass dazu auch Urteile von Gerichten gehören, die über finanzrelevantes Gebaren eines gewissen Tierarztes sich verhalten. 

Die LTO-Presseschau:

Jugendmedienschutz: Ende Februar hat das von Franziska Giffey (SPD) geleitete Bundesfamilienministerium einen Referentenentwurf für die Reform des Jugendschutzgesetzes vorgestellt, durch die vor allem einem neuen Mediennutzungsverhalten Rechnung getragen werden soll. netzpolitik.org (Dominic Lammar) stellt in einem ausführlichen Beitrag die bislang geäußerte Kritik am Entwurf vor.

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